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From our cold hands @ VTO-Gallery London

22. Januar – 20. Februar 2005

Zeichnungen und andere Papierarbeiten

VTO-Gallery – 96 Teesdale Street – London E2 6PU

Kuratiert von Thomas Kilpper in Zusammenarbeit mit Patrick Heide
Eröffnung: 21. Januar 2005 von 18-22 Uhr


Lucie Beppler, Bernadette Corporation, Michael Beutler, Heide Deigert, Emmanuel Depoorter, Thomas Erdelmeier, Jeremy Glogan, Alex Hamilton, Thomas Kilpper, Dirk Krecker, Janne Lervik, Max Mason, Nils Norman, Olivia Plender, Miki Tschur, Klaus Weber, Amelie von Wulffen


Die Ausstellung from our cold hands bringt Zeichnungen und andere Papierarbeiten 17 junger Künstler mit unterschiedlichsten Arbeitsweisen und Strategien zusammen. Arbeiten, die sich widersprechen bzw. ergänzen, Arbeiten, die die Grenzen und Möglichkeiten dieses Mediums befragen und ausloten.

Klaus Weber zeigt Pilz-Zeichnungen, die in einem mehrtägigen Prozeß entsehen und zwar allein durch die Sporen der Pilze. Es handelt sich also quasi um eine Form „automatisierter Zeichnung” ohne direkten zeichnerischen Eingriff des Künstlers.

Umgekehrt zeigt Heide Deigert verzerrte Selbstportraits, die wie vom Computer geschaffen aussehen, aber tatsächlich von Hand gezeichnet sind.

Alex Hamilton nimmt Fotografien des Turner House im Osten Londons als Ausgangspunkt, kopiert sie, retuschiert und zeichnet in die Kopie, kopiert die Zeichnung erneut, zeichnet wieder in die Kopie und so weiter, bis nicht mehr klar ist, wie das ganze entstanden und wie es zu definieren ist: Foto, Zeichnung oder Kopie?

Olivia Plender hinterfragt in ihrem Comic master-piece das Klischee des ,Meisterwerks’, zeichnet ihre Arbeit zwar in klassischem Stil, stellt sie aber immer nur als Kopie aus. Sie macht die Kopie somit zum originalen Kunstwerk und hält das eigentliche Original unter Verschluß.

Dagegen zeigt die in den USA lebende Micki Tschur sehr persönliche Stories – Auszüge aus ihrem Skizzenbuch – „unfinished stories“ wie sie es nennt – als Originalzeichnung.

Die in Norwegen geborene Janne Lervik läßt ihre tagebuch- und comic-artigen Zeichnungen skurile Geschichten erzählen: von ihrer Wahlheimat Berlin.

Max Mason wird für die Ausstellung eine Edition in Form einer CD produzieren. Sie beinhaltet ein Soundpiece, eine Art Klang-Zeichnung, die in der Ausstellung zu hören / zu ,sehen‘ – und eine klassische Zeichnung, die in der Ausstellung jedoch nicht zu sehen ist. Nur wer die Edition erwirbt kann diese Zeichnung – z.B. zuhause am Bildschirm – sehen, für alle anderen bleibt sie ein virtuelles Bild.

Dirk Krecker haut die Tasten alter, mechanischer Schreibmaschinen ins Papier und schafft eine minimalistische Bildsprache: die beweglichen Lettern – Druckwerkzeug verwandelt er in seinen Zeichenstift und liefert für diese Ausstellung Jagdflugzeuge, die im Begriff sind anzugreifen bzw. abzustürzen.

Emmanuel Depoorter und Thomas Erdelmeier stellen großformatige Zeichnungen her – Depoorter geht dabei eher subjektiven Horror- und Angstszenarien hinterher, wobei Erdelmeiers Textbilder uns in ein überbordendes Labyrinth gesellschaftlicher Fragen und Konfliktfelder hineinziehen.

Lucie Beppler wiederum widmet sich intensiv kleineren Formaten mit denen sie Themenkomplexe aus dem Persönlichen und Intimen umkreist – vielfach verletzt und zerfurcht sie dabei ihre Blätter mit Schneidwerkzeug – sie ‚zeichnet‘ u.a. mit dem Messer. Für diese Ausstellung hat sie Arbeiten auf unbehandeltem Fotopapier gemacht, die wie zufällig entstanden wirken und Assoziationen wecken an Telefon-Gekritzel, wie es die meisten von uns wohl schon oft gemacht haben.

Thomas Kilpper hat mit der Kettensäge gezeichnet indem er den gesamten Parkettboden einer Basketballhalle der US-Armee zerschnitten und zum Druckstock für einen Holzschnitt gemacht hat. In dieser Ausstellung zeigt er die ehemaligen Nazi-Geheimdienst-Offiziere um Reinhard Gehlen, die nach dem Krieg an diesem Ort – in der Nähe von Frankfurt – von der CIA zu Agenten des Bundesnachrichtendienst ‚weitergebildet‘ wurden.

Nils Norman ist technisch gesehen ganz im Heute: er greift in seinen Illustrationen vor allem auf den Computer und dessen Software zurück: sein Zeichenstift ist die Maus. Mit ihr entwickelt er eine systemkritische Bildwelt in die seine ironischen Reparatur- bzw. Verbesserungsvorschläge für verschiedene gesellschaftliche Probleme einfließen.

Die in Berlin und New York lebende Künstlergruppe Bernadette Corporation stellt für die Ausstellung ein aus dem Internet bezogenes und computer-generiertes Bild eines ,blow-job’ zur Verfügung. Indem sie es auf Leinwand und Keilrahmen ziehen, befragen sie auch einen zentralen Eckpfeiler künstlerischer Produktion: inwiefern verhelfen Keilrahmen und Leinwand ein Werk zu wirklicher Kunst und einem wirklichen Wert zu machen?

Künstlerischer Tradition hält Jeremy Glogan scheinbar die Treue indem er Pinsel, Feder und Bleistift zur Hand nimmt – dabei spielt er jedoch mit den verschiedenen Stilrichtungen der Kunstgeschichte, bricht und verwirft seine Arbeit immer wieder auf’s Neue.

Amelie von Wulffen integriert Fotografie nicht nur in ihre Zeichnungen, mit ihren Übermalungen schafft sie eine völlig neue Grundlage für ihre Bildproduktion. Sie baut geradezu traumhafte Räume, um sich im nächsten Moment mit zarten Strichen wieder privaten Geschichten oder abgegriffenen und fragwürdigen Persönlichkeiten wie Alexander Solchenyzin zu widmen.

Michael Beutler baut low-tech Maschinen und wird mit einer solchen für die Ausstellung zehnfach vergrößerte ,Sunkist-Tetra-Pack-boxes’ produzieren und auf dem Boden verteilen. Provoziert er damit ein de-kon-struktives Spiel oder ist es die Besetzung bzw. Inanspruchnahme des Raumes?



Thomas Kilpper
Patrick Heide

Weitere Information über:
info@vtogallery.com – http://www.vtogallery.com
patrickheide@hotmail.com oder fon ++44 (0)790 0215 317

Castoren zu Halfpipes | Projekt für Ahaus | 2004/05

castoren zu halfpipes | 2004/05
Projekt zur Skulptur-Biennale Münsterland 2005

Projektentwurf
zur Skulptur-Biennale Münsterland 2005



Ich möchte mit Jugendlichen aus Ahaus und Umgebung in Zusammenarbeit mit interessierten örtlichen Initiativen (Skater, Jugendzentrum, Bürgerinitiative Umweltschutz, Berufsorientierungszentrum…) im Rahmen der Skulptur-Biennale Münsterland 2005 in einem zwei- bis dreiwöchigen Workshop eine benutzbare Skulptur

1/2 castor x 2xL x 2xH x 2xB = half-pipe

bauen.

Im Anschluß soll die gefertigte Skulptur (Halfpipe) in einem gemeinsamen Umzug – gleichsam einem Castor-Transport am „Tag X” – durch den Landkreis gezogen werden, bevor sie im Schloßgarten fest installiert und der Öffentlichkeit zur Nutzung übergeben wird.

Castoren zu Halfpipes!

Die jüngste Geschichte von Ahaus und des Landkreises wird maßgeblich bestimmt von der Auseinandersetzung um die Nutzung der Atomenergie hier insbesondere um das Atommüll-Lager – das sog. zentrale Brennelement Zwischenlager (BEZ).
Seit 1992 lagert am Stadtrand von Ahaus in einer riesigen Halle radioaktiver Abfall verschiedener deutscher Atomkraftwerke. Wie aktuell dieses Thema ist veranschaulicht u.a. die Tatsache, daß vor wenigen Tagen eine erneute Einlagerungs- und Transportgenehmigung für 18 Castorbehälter aus einem ehemaligen Forschungsreaktor bei Dresden vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg erteilt wurde. Kaum ein anderer Konflikt besitzt soviel Gefahrenpotential für Mensch und Umwelt, sowie sozialen Zündstoff, der die Gesellschaft zuweilen auseinanderzureissen droht.
Zahlreiche gelbe Kreuze des Protests (Tag X) zeugen von diesem Konflikt und sind zu einem festen Bestandteil des Stadtbilds von Ahaus geworden.

In gewissem Kontrast dazu steht, daß die Jugend- und Freizeitangebote nach Aussagen von Betroffenen viel zu wünschen übrig lassen. Zwar gibt es am Stadtrand auf dem Freizeitgelände Oark seit einiger Zeit eine Halfpipe. Aufgrund von Anwohnerbeschwerden soll diese jedoch – im Gegensatz zum Atommüll-Lager – abgerissen werden. Die Errichtung einer Halfpipe für Skater und Inliner im Schloßpark wäre denkbar (zentrale Lage, keine unmittelbaren Anwohner) und wünschenswert.

Skizzen

Ulrike Meinhof @ Meerrettich Berlin

31. März – 5. Mai 2004

Pressemitteilung: thomas kilpper in der galerie meerrettich im pavillon an der volksbühne rosa-luxemburg-platz, berlin
kontakt: 030 28879710 – email: info AT meerrettich.net

ulrike meinhof – ausstellung vom 31.03. bis 09.05.04
im pavillon am rosa-luxemburg-platz eröffnet am 31. märz, 20 uhr thomas kilpper seine ausstellung mit der skulptur eines überlebensgroßen kopfes: ulrike meinhof.

unter verschiedenen namen spielte der rosa-luxemburg-platz seit fast 100 jahren unterschiedlichste rollen als bühne für politische auseinandersetzungen und monumente. zahlreiche demonstrationen der linken, etwa nach der ermordung von rosa luxemburg und karl liebknecht, aber auch bedrohlich inszenierte aufmärsche der nazis nahmen hier ihren ausgang.
1928 versuchte die kpd an der stelle des heutigen pavillons ein denkmal für lenin zu errichten.
der damalige berliner senat lehnte das vorhaben jedoch ab. nur wenige jahre später errichteten dort stattdessen die nationalsozialisten das horst-wessel-denkmal. seit einiger zeit wird nun versucht, mit einem kunstwerk ein denkzeichen für rosa luxemburg zu errichten.

mit ulrike meinhof will thomas kilpper die spezifische politisierung dieses ortes in die gegenwart verlängern, jedoch nicht ohne dabei neue brüche zu schaffen und die stilisierungen und klischierungen, die damit einhergehen, kritisch zu befragen. mit seiner skulptur bezieht er sich auch auf die gleichnamige johann-kresnik-inszenierung an der volksbühne von 1993.

ulrike meinhof steht wie kaum eine andere persönlichkeit der westdeutschen nachkriegslinken für einen langen weg der politischen auseinandersetzung mit den mächtigen dieses staates, auf dem sie sich von einer kritischen journalistin zu einer revolutionären untergrund-kämpferin radikalisierte. sie engagierte sich in den 50-er jahren als studentin gegen die wiederbewaffnung und gegen die atomrüstung der brd, bevor sie über zehn jahre politische essays insbesondere in der zeitschrift konkret veröffentlichte und schließlich, auf dem höhepunkt des us-kriegs gegen vietnam, 1970 selbst zur waffe griff und die rote armee fraktion mitbegründete.

1972, nach 2 jahren großfahndung und allenthalben plakatierung an jeder litfaß-säule, wurde sie gefasst. die haft musste sie zeitweise in völlig menschenleeren trakten, isoliert von der außenwelt, verbringen. während des großen stammheim-prozesses saß sie mit andreas baader, gudrun ensslin und jan carl raspe auf der anklagebank. kurz nachdem sie vor gericht eine umfangreiche rede und anklage gegen das us-amerikanische „engagement” in indochina vortrug, wurde sie am 9.mai 1976 tot in ihrer zelle aufgefunden. der staat hat es nicht geschafft, die widersprüche und begründeten zweifel an seiner selbstmord-these auszuräumen und die todesumstände lückenlos aufzuklären.

ulrike meinhof wäre dieses jahr 70 jahre alt geworden. nach ihrem tod wurde ihr gehirn ohne einwilligung der angehörigen entfernt und über ein viertel jahrhundert lang zu „wissenschaftlichen zwecken” in labors deutscher universitäten aufbewahrt. bereits 1973 wollte die staatsanwaltschaft gegen den willen von ulrike meinhof einen op-eingriff in ihr gehirn vornehmen, der nur durch internationale öffentlichkeit und kritik verhindert werden konnte.
die mediale aufbereitung des „gehirnraubes” zeigt die wiederkehr dieses alten versuchs der pathologisierung von ulrike meinhof und damit die pathologisierung revolutionärer politik überhaupt. dagegen setzt der künstler die realität der werke, die ulrike meinhof selbst geschaffen hat, ihre texte und briefe von 1960-76.

ulrike meinhof
31.03.04
ausstellungseröffnung
rosa-luxemburg-platz
berlin

Fuck your landlord | London | 2003

Fuck your Landlord
Feldversuch in den Straßen von London, 2003


In dem Bewußtsein, dass mein Mietvertrag ausläuft und der Hausbesitzer die eh schon hohe Miete noch einmal erhöhen will, ziehe ich mit einer Minimal-Behausung auf Rädern durch die Straßen; die in London drastisch ansteigenden Mietkosten zwingen zu unorthodoxen Maßnahmen.
Der Feldversuch, im Öffentlichen Raum zu überleben, scheitert: ein Rad bricht und es kommt die Polizei und veranlasst, dass mein Gefährt von der Straße genommen wird. Monate später wird es in der Ausstellung „Independence“ in der South London Gallery gezeigt.

Al hissan – the jenin horse | 2003

Al Hissan – Das Jeninische Pferd
Kunst im öffentlichen Raum unter Besatzungsbedingungen

Auf Einladung des Goethe-Instituts Ramallah habe ich einen mehrwöchigen Kurs geleitet. Workshop mit palästinensischen Jugendlichen in Jenin im Sommer 2003.

Gemeinsam bauten wir ein 5 Meter großes Pferd aus geschnörkeltem Metall, das aus einem zerstörte Häuser und Autos. Das Pferd wurde anschließend durch die Anlage geschleppt. Straßen von Jenin und, zu einem späteren Zeitpunkt, fast 200 km entfernt durch die besetzten Gebiete. Gebiete des Westjordanlandes.

Tagebuch 22. März – 23. Juli 2003

Wer das Geld hat, hat die Macht | Frankfurt/M | 2002

Forum der Sparkasse 1882,
Frankfurt am Main, 2002


Für September 2002 war ich eingeladen zu einer Ausstellung bei der Frankfurter Sparkasse. Jahrelang diente die Biene im Logo der Bank. Nun sollte ein Bienenvolk so im Ausstellungsraum installiert werden, dass die Bienen ins Freie fliegen, dort den Nektar holen und als ,Gold’ in die Bank bringen können. Öffentlicher Reichtum wird zu privatem, korrespondierend zur herrschenden Tendenz, den Öffentlichen Raum verstärkt für private Interessen zuzurichten. Fachlich beraten wurde ich dabei vom Leiter des Instituts für Bienenkunde der Uni Frankfurt.
wer das geld hat, hat die macht! sollte ein öffentlich angeschlagenes Plakat, einen Katalog, als auch eine Diskussionsveranstaltung umfassen. Aufgrund meiner Recherche und kritischen Aussage zum Verhalten und Selbstverständnis der Bank insbesondere bezüglich der Zeit des Dritten Reiches wurde ich ausgeladen und die Ausstellung kurzfristig abgesagt.
Vom 17. September bis 11. Oktober 2002 blieben die Räume des Forum 1822 leer.

Die Freiheit der Kunst ist ein Grundrecht.
„Die Freiheit der Kunst ist ein Grundrecht.“
(Aus der Werbung der Sparkassen-Finanzgruppe auf der Documenta 11)

Eben nicht.

Im Oktober 2001 ergeht an mich eine Einladung, im Rahmen des ‚Jahresprogramms 2002 der Galerie 1822-Forum‘ vom 17.09. bis 11.10.02 in den Räumen Töngesgasse 40 der Sparkasse 1822 eine Ausstellung durchzuführen. Mir ist von Beginn an klar, dass ich dafür eine neue Arbeit entwickeln werde. Eine Installation, die sich mit dem Ort – in diesem Fall mit der Institution „1822″, also einem Geldinstitut – auseinandersetzen wird.

Ich schlage den Verantwortlichen daher vor, mit Hilfe von Material aus dem Archiv der Sparkasse, deren Geschichte – insbesondere die Zeit des NS-Faschismus – kritisch zu beleuchten. Dieser Vorschlag wird abgelehnt. Ich erhalte keinen Einblick in das Archiv mit den Unterlagen aus dieser Zeit. Begründet wird dies von Seiten der „1822″ mit ihrer Verantwortung für den ‚Schutz der Kunden und des Bankgeheimnisses‘.

Auch mit meinem zweiten Vorschlag stosse ich zunächst auf wenig Gegenliebe: Ueber 160 Jahre dienten der Sparkasse Bienen und Bienenkorb als Firmenzeichen und Logo. Symbole für Fleiss und Sparsamkeit. Ich möchte die Bienen zurückholen an diesen Ort, und zwar als lebende Wesen. In der Mitte des Raumes soll ein Bienenstock so aufgestellt werden, dass die Bienen die Möglichkeit haben, durch eine Fensteröffnung ins Freie zu fliegen.
Erst die Worte von Prof. Nikolaus Koeniger, dem Leiter des Instituts für Bienenkunde (eine Tochter-Gesellschaft der „1822″), der sich freundlicherweise bereit erklärt, die Aufstellung und Betreuung der Bienen zu übernehmen, können die Verantwortlichen der Sparkasse überzeugen. Es ist von nun an geplant, mittels roter Klarsichtfolie auf den Fenstern, den gesamten Raum in rotes Licht zu tauchen und damit die Bienen auf eine Flugbahn zur Fensteröffnung zu lenken.
Die Flugmöglichkeit der Bienen ins Freie, das Sammeln des „Goldes“ im Oeffentlichen Raum und das Unterbringen desselben in den Räumen der Sparkasse… sind Metaphern, die sich sehr bewusst sowohl auf die Geschichte (und Funktion) der Bank als auch auf das diesjährige Thema der Ausstellungsreihe, „Kunst und Oeffentlicher Raum“, beziehen. Die Bienen sind in diesem Zusammenhang eine Art ambivalentes Sinnbild, das einerseits liebenswert, andererseits bedrohlich wahrgenommen werden kann.

Parallel zu den praktischen Vorbereitungen der Installation arbeite ich an Einladungskarte, Plakat und Katalog, die mit dieser Ausstellung einhergehen.
Ich versuche, auch ohne auf das Archiv der Sparkasse zurückgreifen zu können, mir ein Bild zu machen über die früheren Aktivitäten der Bank – insbesondere in der Zeit des NS-Faschismus. Ich gehe ins Stadtarchiv, informiere mich beim Jüdischen Museum, beim Fritz-Bauer Institut und lese die „Chronik der Frankfurter Sparkasse“ von Friedrich Lauf. Die Ergebnisse meiner Recherche sollen einfliessen in den Text im Katalog, der die Ausstellung begleitet.

Die „1822″ besteht auf der Anerkennung und Pflege ihrer „bewährten Traditionen“, feiert – nicht ohne Stolz – ihre 150, 160, 175 jährigen Jubiläen – und rechnet dabei die 12 Jahre NS-Faschismus so lautlos wie selbstverständlich mit ein. Gleichzeitig wird die Firmengeschichte im Dritten Reich mehr oder weniger aus einer Perspektive des Opfers beschrieben: „Es blieb den Verantwortlichen… nichts anderes übrig, als sich… um des Uberlebens der Sparkasse willen, zunächst anzupassen.“ („Chronik der Frankfurter Sparkasse 1822″, S.185 von Friedrich Lauf)

(Weitere Einzelheiten siehe Anhang)

Um dieser Verharmlosung der damaligen Ereignisse weitere Erkenntnisse hinzuzufügen und für eine andere Haltung einzutreten, plane ich, parallel zur Ausstellung Diskussions-Veranstaltungen zu organisieren: „Die Rolle der Banken im Zeitalter globalisierter Wirtschaft“ (angedacht einzuladen sind ein Vertreter der Initiative „Ordensleuten für den Frieden“ sowie von Attac und des Betriebsrats der „1822″) bzw. „Banken im Dritten Reich – Arbeit an Geschichte – Wie und mit welchem Ziel?“ (angedacht einzuladen sind Vertreter des Fritz-Bauer-Instituts und des Jüdischen Museums).

Noch bevor ich diese Idee vertiefen kann, werde ich von Seiten der „1822″ gestoppt. Ich erhalte keine Genehmigung zu einer Veranstaltung – im Gegenteil, es wird mir nun mitgeteilt, dass meine Einladung zur Ausstellung insgesamt möglicherweise rückgängig gemacht wird, meine Person wie meine Arbeit seien „falsch eingeschätzt“ worden.

Daraufhin formuliere ich einen Kompromiss-Vorschlag: ich verzichte auf die angedachten Veranstaltungen und sichere zu, mich in meinem Katalog-Text auf die Recherche der Geschichte der „1822″ zu konzentrieren – die Ausstellung / Installation soll unverändert realisiert werden.

Fast drei weitere Wochen dauert es: am 31. Juli wird mir telefonisch mitgeteilt, dass meine Ausstellung nicht genehmigt wird und ich hiermit ausgeladen bin. Eine schriftliche Begründung gibt es nicht, es heisst lediglich „wir können das nicht machen“. Eine Entscheidung des Vorstands.

Mir war bewusst, dass mein Vorhaben, die einladende Institution kritisch zu beleuchten, zu gewissen Spannungen führen kann. Die Ausstellungs-Konditionen einhaltend, erwartete ich jedoch, dass die Verantwortlichen der Sparkasse die Freiheit der künstlerischen Arbeit respektieren.
Das war ganz offensichtlich eine Fehleinschätzung. Ebenso wie meine Hoffnung falsch war, dass mein Beitrag begrüsst wird als Anlass zu einer weiteren Auseinandersetzung mit diesen Themen innerhalb oder ausserhalb der „1822″.

Diese Erfahrung erinnert mich an längst überwunden geglaubte Konflikte: Zum Thema ‚Faschismus‘ gab es zwischen meinem Vater und mir immer wieder heftige Diskussionen. Dabei geriet ich in einen tiefen Widerspruch: einerseits wünschte ich mir, meinen Vater lieben zu können, andererseits musste ich sein Tun und einen wichtigen Teil seiner Person aber ablehnen, ja geradezu ächten. Je intensiver unsere Diskussionen über die Zeit des Faschismus und den Krieg wurden, desto weniger vermochte ich ihn nur als „Opfer“ zu begreifen. Im Gegenteil. Ich musste ihn immer mehr auch als Soldat sehen, bewaffnet – auf der Seite der Aggressoren. Es war aufwühlend, meinen Vater in diesen Gesprächen lange Zeit nahezu unfähig zu Selbstkritik, jedoch mit der Neigung sich zu rechtfertigen, zu erleben.

Heute wird von verschiedenen Seiten – nicht zuletzt auch von Künstlern – der Versuch unternommen, einen Schlusstrich unter die Auseinandersetzung um ‚das dunkle Kapitel‘ der deutschen Geschichte zu ziehen, und sich von der ‚einseitigen Last der Schuld zu befreien‘ (Martin Walser). Aber in einer Zeit, in der es geradezu als notwendig gilt, von den Leiden und Opfern der Deutschen in und nach dem Zweiten Weltkrieg zu sprechen (wie in Günter Grass‘ Novelle „Im Krebsgang“) – in einer Zeit also, die gekennzeichnet ist durch den versuchten „Umbau der deutschen Erinnerungskultur: von der Täter- zur Opfergesellschaft“ (Neue Zürcher Zeitung, 3. April 2002), halte ich es für unerlässlich, weitere geschichtliche Fakten und Erkenntnisse zu recherchieren und thematisieren. Erkenntnisse, die nicht nur unser Bewusstsein für die Geschichte vertiefen sondern auch hilfreich sein können, unsere Gegenwart emanzipativ und fortschrittlich zu gestalten.

Nachdem mir Einblick in das Archiv verwehrt worden war, wurde es zu einem meiner Ziele, mit meiner Arbeit den Gedanken und die Aufforderung ins Spiel zu bringen, unabhängigen Historikern die Archive (aus der NS-Zeit) der deutschen „Traditions“-Unternehmen – und so auch das der Sparkasse „1822″ – zugänglich zu machen.

Dass der Vorstand der Frankfurter Sparkasse 1822 versucht, diese Auseinandersetzung zu verhindern ist bedauerlich und zeugt von außerordentlicher Kurzsichtigkeit im Umgang mit der eigenen Geschichte. Darüberhinaus widerspricht das Verhalten der „1822″ jeglichem Anspruch an einen demokratischen und kritischen Diskurs.

Dass das Verbands-Organ der Frankfurter Sparkasse, die Sparkassen-Finanzgruppe, die Documenta11 mit dem wohlklingendenen Slogan – „DIE FREIHEIT DER KUNST IST EIN GRUNDRECHT“ – bewirbt, kann nach diesem Vorfall eigentlich nur noch bitter ironisch gelesen werden.

Thomas Kilpper – London, im August 2002

PS: Weiterverbreitung ausdrücklich erwünscht

Anhang
Dadurch, dass mir kein Einblick in das Archivmaterial gewährt wurde, bleiben Fragen zwangsläufig unbeantwortet. Ich konnte weder in Erfahrung bringen, ob die „1822″ tatsächlich Zwangsarbeiter-innen in ihrer Verwaltung einsetzte, wie mir zu Ohren kam. Noch konnte ich Material finden über die Frage ihrer Beteiligung bei der Abwicklung der Zwangsenteignungen der 33.000 jüdischen Einwohnern (die aus Frankfurt in die KZ’s deportiert und dort ermordet wurden). Genauso wenig konnte ich in Erfahrung bringen, ob sie Geschäftsbeziehungen z.B. zu den IG-Farben – dem Zyklon B Hersteller mit Firmensitz in Frankfurt – oder zur NSDAP oder Gestapo unterhielt.

Leicht und reibungslos konnte die „1822″ nach der Machtübernahme auf NS-Linie gebracht werden. Sie hat von Anfang bis Ende alles mitgemacht. Sie hat am NS-System partizipiert und vor allem gut verdient und konnte erstaunlich expandieren.
Während des Dritten Reichs sind die Einlagen (auf 371 Millionen Reichsmark) um das fünffache gestiegen, hat sich das Eigenkapital (auf 14,9 Millionen) nahezu verdreifacht, haben sich die Wertpaiergeschäfte (auf 204 Millionen) annähernd verzehnfacht, hat sich die Kreditvergabe (auf 90 Millionen) verneunfacht und die Bilanzsumme (auf 427 Millionen) um das viereinhalbfache erhöht. Im selben Zeitraum verdoppelte sich die Anzahl der Sparbuch-Inhaber in Frankfurt auf über 330 000.

Die Teilnahme an den 1. Mai Aufmärschen wurde 1934 für die Mitarbeiter zur Pflicht, alle Filialen und Abteilungen erhalten 1935 einen „Volksempfänger“.

Der Krieg war zunächst insofern alles andere als negativ, als die „1822″ nun erreichte, was in den Jahren zuvor mehrfach scheiterte: der Kauf mehrerer Grundstücke und Gebäude, insbesondere jenes ihrer Hauptniederlassung, Neue Mainzer Strasse 47-51, wo sich noch heute ihre Zentrale befindet.

Die Beziehungen zur NSDAP wurden trotz Judenverfolgung und Krieg immer besser. Am 1. Mai 1940 wurde die „1822″ bei einer feierlichen Zeremonie im Palmengarten zum NS-Musterbetrieb und „Inhaber der goldenen Fahne der Deutschen Arbeitsfront“ erklärt.

1941 wurde das „eiserne Sparen“ gesetzlich / bei der „1822″ eingeführt.

„Spare auch Du ‚eisern‘! Warum sollst Du ‚eisern‘ sparen?
Weil im Kampf um Gross-Deutschlands Zukunft
gegenwärtig in erster Linie kriegswichtige Güter
erzeugt werden und somit viele Waren für den
zivilen Lebensbedarf knapp geworden sind. Das darf
aber keinen Volksgenossen veranlassen, wahllos
und unwirtschaftlich zu kaufen und sein gutes Geld
auszugeben für Anschaffungen, die nach dem
Kriege viel preiswerter und in besserer Qualität
gemacht werden können.“

(aus einer Werbeanzeige der „1822″)

Das ‚eiserne Sparen‘ war eine Form des Zwangssparens, bei dem die Guthaben während des Kriegs gesperrt waren und erst 12 Monate nach Kriegsende verfügbar werden sollten, um so die Kosten für Rüstung und Krieg zu finanzieren. (Bereits im 1.Weltkrieg hatte die Sparkasse ihre Kunden aufgefordert Kriegsanleihen zu zeichnen. 46,5 Millionen Mark haben daraufhin allein die Kunden der 1822 in den Krieg investiert, wobei die 1822 noch zusätzlich 38,3 Millionen Mark aus eigenen Mitteln zuschoss.)

Im März 1933, zwei Monate nachdem die NSDAP an die Macht kam, stieg Emil Emge zum stellvertretenden Direktor der „1822″ auf. Er war die gesamten 12 Jahre NS-Faschismus in der Geschäftsleitung, ab 1936 als 2. Direktor und ab 1940 bis Kriegsende sogar als erster Direktor. Nach zweijähriger ‚Schamfrist‘ wird Emge 1947 erneut zum 2. Direktor in die Geschäftsführung der Bank berufen. Von 1950 bis zu seinem Tod 1965 war Emge wieder leitender Direktor der Bank. Im Verwaltungsrat waren Dr. Alexander Mettenheimer von 1933-45 und dann erneut 1948-69 sowie Direktor Otto Schneider (1933-44 und 1954-64) – Beispiele erschreckender personeller Kontinuität an der Spitze eines deutschen Unternehmens während und nach dem Nazi-Faschismus

Projekte | London | 2002/03

making mice and rats artists & artlab II

Queen Mary College, Turner Building
Whitechapel Campus, London 2002

artlab II und making mice and rats artists (in Zusammenarbeit mit dem Künstler Alex Hamilton) war der Versuch, das leerstehende mikrobiologische Forschungslabor (Turner Building) der Queen Mary Universität in London zu einem experimentellen Kunstlabor umzuwidmen.


1. Bei making mice and rats artists sollten in Zusammenarbeit mit dem Künstler Alex Hamilton in einem architektonischen Ensemble aus der zurückgebliebenen Laboreinrichtung und präparierten Leinwänden / Bildträgern Mäuse und Ratten so gehalten werden, daß sie die Bilder anfressen und damit zu Kunstwerken machen bzw. zu den Autoren / Künstlern werden. In Großbritanien gibt es breite Widerstände gegen jegliche Form von Tierversuchen. Darauf hat die Arbeit u.a. gezielt. Das Projekt konnte nicht realisiert werden, da die Hochschulleitung die Tatsache der Tierversuche in ihrem Hoheitsbereich lieber verschweigen wollte.

2. Im Rahmen von artlab II sollten zudem Ausstellungen, Performances oder Vorträge eingeladener Künstler, Wissenschaftler und Architekten im Turner Building stattfinden. Ausgangspunkt der Planungen war der spezifische Ort – einerseits die Whitechapel-Area mit bis zu 60% Immigranten-Anteil vornehmlich aus Asien, andererseits die Virus-Forschung des medizinischen Instituts (u.a. HIV, Anthrax…)

Raheres freies Gästehaus und interdisziplinärer Workshop

Interdisziplinärer Workshop auf Brachfläche
der Medical School des Queen Mary College
Charterhouse Square, London 2002/03
mit Studenten der
Architecture Association und des Royal College of Art

Dieses Projekt war auf einer der letzten, vom 2.Weltkrieg herrührenden, Brachflächen im Zentrum von London, geplant. In Zusammenarbeit mit Jo Stockham, Dozentin am Royal College of Art, war ein interdisziplinärer Workshop mit Studenten von drei Disziplinen, Architekten, Künstler und Mediziner, vorgesehen. Unter meiner Anleitung sollte ein provisorischer Klassenraum und ein Helter-Skelter-Turm errichtet werden. Ausgangsmaterial sollte ein großer Berg ausrangierter Möbel der Hochschule sein. Das Curriculum sollte Dozenten verschiedener Disziplinen und überschneidende Themen (Medizin, Kunst, und Architektur) umfassen. Über Monate war eine Genehmigung der Hochschule in Aussicht gestellt, die in der entscheidenden Phase jedoch aus nicht erläuterten Gründen leider ausgeblieben ist.

Drowning hercules | London | 2001

Thomas Kilpper
Drowning Hercules

bis 30. September 2001
Privatbesichtigung: 13. September 18:00 – 21:00 Uhr Einführung von David Thorp (Kurator für zeitgenössische Kunstprojekte, The Henry Moore Foundation)
Öffnungszeiten: Di – So 12:00 – 18:00 Uhr

Riddell Haus, Untergeschoss – St. Thomas‘ Hospital
Lambeth Palace Road, London SE1

Der deutsche Künstler Thomas Kilpper arbeitet seit acht Monaten als Artist in Residence im Riddell House, einem ehemaligen Pflegeheim des St. Thomas Krankenhauses. Kilppers Arbeit, anstatt die Eröffnung eines neuen Gebäudes zu feiern, erinnert vorübergehend an das Ende eines Gebäudes. Ertrinkender Herkules wird es nur geben, bis das Riddell House abgerissen wird, um Platz für ein neues Kinderkrankenhaus zu schaffen.

Ertrinkender Herkules steht zwischen der Vergangenheit und der Zukunft des Ortes, eine kurze Pause zum Nachdenken und blickt zurück auf die Geschichte des Riddell House, bevor der Ort in die nächste Phase geht. Für Kilpper ist ein Gebäude nicht nur eine vierwandige Struktur, in die man schneiden und arbeiten kann. Er geht auch in die Geschichte ein, um herauszufinden, was in der Vergangenheit an dieser Stelle passiert ist. In diesem Fall bezieht sich der Titel der Arbeit auf die Geschichte der Website. 1870, einen Steinwurf von der Stätte des Riddell House entfernt, stand für rund 120 Jahre der allererste eigens dafür gebaute Zirkus der Welt, Astleys „Royal Amphitheatre of the Arts“. In der Nähe befand sich auch die Residenz von William Blake, das „Hercules Building“, benannt nach dem starken Mann im Zirkus von Philip Astley. Der Zirkus, wie Kilppers Stück, wurde aus altem Holz gebaut. Astley bot Gin und Bier denen an, die ihm die Überreste der alten Covent Garden Hustings brachten.

Im Untergeschoss des Riddell-Hauses gelegen, wurde der Ertrinkende Herkules vollständig aus verlassenen Schubladen, Schränken, Tischen, Türen und Parkettböden hergestellt, die einst die Zimmer der Krankenschwestern eingerichtet haben. Mit einem Hauch von Ironie wurde das einst gewaltsam in Bodenbelag und Einrichtung geschnittene Holz wieder kraftvoll in Form und Aussehen eines Baumes zurückgeführt. Die Funktion, der das Holz diente, bleibt in Teilen des Baumes sichtbar.In der schwingenden Stille des Raumes steht der Baum im Boden der ehemaligen Schwimmbäder. Über die Höhe des Kellerraums drückt er gegen das Glasdach, als wolle er aus der Enge des Raumes ausbrechen und ins Tageslicht gelangen. In einem organischen Prozess entstanden, breiten sich seine ausladenden Äste wie Tentakel aus.

Das Baumprojekt ist eine Fortsetzung von Kilppers temporärer Großbaustellenarbeit, die sich auf die Geschichte der Räume stützt. Im vergangenen Jahr schuf Kilpper im Rahmen der Projektinitiative der South London Gallery im Orbit House, Southwark, einen gigantischen Holzschnitt, der die Geschichten der Stätte als Boxring, das Gebiet von Southwark und seine ganz persönliche Geschichte zusammenführte. 1999 enthüllten Kilppers Schnitzereien auf dem gesamten Stockwerk eines Gebäudes in der Nähe von Frankfurt die Geschichte der Stätte, von der Nutzung als nationalsozialistisches Verhörzentrum bis hin zu einem US-Militärlager.

Die Ausstellung wird von einem Video von Hector Hazard begleitet, das den Prozess der Entwicklungsarbeit dokumentiert.
Das Projekt wurde durch die großzügige Unterstützung von London Arts und dem Goethe-Institut ermöglicht.
Für Presseinformationen und Bilder wenden Sie sich bitte an Sally Lai & Ifat Cafri unter 07960 371843 oder per E-Mail an drowning_hercules AT hotmail.com.

The ring | London | 2000

The Ring
Holzschnitt Projekt 1999-2000

Orbit-House, 197 Blackfriars Road, London

Über einen Zeitraum von 12 Monaten entstand im 10. Stock eines leerstehenden Büro-Hochhauses im Zentrum Londons, wo in den 1920er Jahren ein äußerst polulärer Boxring stand, The Ring, ein ca. 400 qm großer Holzschnitt im Parkettboden.
Im Gebäude war die Orient-Abteilung der British Library und als Teil ihrer Sammlung der älteste uns bekannte Holzschnitt – der Diamond Sutra aus China – untergebracht.
Nach und nach erschienen ca. 70 Porträts bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten, die mit diesem Ort in Verbindung standen, auf der Fassade des Gebäudes, das dadurch zu neuem Leben kam. Boxer, Politiker, Künstler, Popstars.
Bei der Ausstellung, die von der South London Gallery (David Thorp) organisiert wurde, hing der Gesamt-Abdruck an der Fassade und wehte wie eine Besetzer-Fahne im Wind.
Parallel zur Ausstellung und in Bezug zu dem Ort wurden vier Vorträge abgehalten. Vom Leiter der Orientabteilung der British Library, vom Vorsitzenden der Londoner Boxer-Vereinigung, von Sandy Nairne von der Tate Gallery, die einen Steinwurf entfernt ihr Museum für Moderne Kunst eröffnete und von dem Architekt Prof. Will Alsop, der über die Pläne für die Zukunft des Ortes sprach.

Knock it Out von Neil Mulholland
„Meine Arbeit ist eine Art Rekonstruktion des Boxrings von Blackfriars in der British Library. Ich stelle das sehr spezielle Publikum eines speziellen Boxkampfs dar. Ungefähr 80 Leute kommen zusammen, um dieses Spektakel mitzuerleben; einige sind bekannt, andere nicht – Charles Dickens, William Shakespeare, Johannes Gutenberg, Alfred Hitchcock, Denis Healey, Adolf Hitler, Len Harvey, Henry Cooper, Muhammad Ali, Marie Lloyd, Mata Hari, Richard Wagner, Georg Friedrich Händel, Karl Marx, Sigmund Freud, Madonna, Basquiat, Andy Warhol, Leo Castelli, Sigmar Polke, Gilbert & George … Aus meiner Sicht sind sie alle mit diesem spezifischen Ort, mit dem Stadtteil Southwark oder mit mir selbst verknüpft.“ Thomas Kilpper

Auf der 10. Etage des Orbit House, eines leer stehenden Bürogebäudes in der Blackfriars Road in Southwark, hat Thomas Kilpper einen 400 qm großen Holzschnitt geschaffen. Fünf Monate lang hat Kilpper direkt in das Mahagony-Parkett geschnitzt und die Geschichte des Ortes in den Boden gemeißelt, indem er eine Karte der gewaltigen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Veränderungen entwickelte, die sich in Southwark im Laufe von mehr als 200 Jahren ereignet haben. Man kann dort verschiedene Veränderungen im Hinblick auf Gesellschaftsstruktur, Politik und Wirtschaft nachvollziehen, die von der kirchlichen Nutzung des Ortes im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zu dem gegenwärtig zu beobachtenden Anbruch des Cyber-Kapitalismus reichen.

Es ist bezeichnend, dass Kilpper sich der Technik des Holzschnitts, des ältesten Druckverfahrens, bedient. Die sich ab dem 15. Jahrhundert in Europa verbreitenden Holzschnitte hatten die Funktion, Wissen zu vermitteln und historische Ereignisse buchstäblich festzuschreiben. Eine der wesentlichen Veränderungen unserer Weltsicht, die die Erfindung des Druckstocks mit sich brachte, lag in der Vorstellung, die Natur warte gewissermaßen nur passiv darauf, dass der Mensch sie sich aneignet.

Kilppers Geschichte beginnt im Jahre 1780, als der charismatische Reverend Rowland Hill, dessen Predigten über 1000 Gläubige anzogen, an diesem Standort die oktagonale Surrey Chapel errichten ließ. Die Kapelle wurde 1890 aufgegeben, und das Gebäude wurde zunächst von dem Ingenieurbüro Green & Sons Ltd. übernommen, bevor es 1905 in ein Möbellager umgewandelt wurde. Zwischen 1907 und 1909 wurde es zu einem der ersten Londoner Kinos umgebaut und erhielt somit wieder seine ursprüngliche Funktion als Schauplatz des Ruhms, der Rituale und der Flucht. Diese Phase der Filmgeschichte ist gut geeignet, um die für Kilppers Schaffen so relevanten Beziehungen zwischen spektakulären Ereignissen und historischem Niedergang zu untersuchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekamen die Schauspieler nur selten Anerkennung für Filmrollen. Viele Schauspieler waren hauptsächlich am Theater tätig, wo der Film als zweitrangig betrachtet wurde. Deshalb wollten sie oft gar nicht erkannt werden, wenn sie in Filmen mitspielten.

Nachdem man beschlossen hatte, das Gebäude weiterhin als Veranstaltungsort zu nutzen, wurde dort jene beliebte Boxarena eingerichtet, die man den Ring (The Ring) nannte. Zwischen 1910 und 1940 traten hier einige der berühmtesten Londoner Boxer auf. Zu dieser Zeit boten Sportarten wie das Boxen eine gute Gelegenheit, bestimmte männliche Werte in der westlichen Gesellschaft zu festigen. Schon vorher hatte es etliche Versuche gegeben, Kampfsportarten mit moralischer Stärke in Verbindung zu bringen – so zum Beispiel bei der Entwicklung jenes energischen Christentums, wie es von führenden viktorianischen Pädagogen propagiert wurde. Diese Tendenzen traten besonders deutlich in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zutage, als der Boxring zu einer Plattform wurde, auf der physische Präsenz, das stoisch-tapfere Ertragen von Schmerz und die Fähigkeit, unter Druck Entscheidungen zu treffen, demonstriert werden konnten – eindeutig militärische Werte, die als grundlegende männliche Tugenden ausgegeben wurden.

Kilpper verbindet die ideologische Bedeutung des Boxens mit eher subjektiven Assoziationen an diese Sportart, indem er Personen wie Muhammad Ali und Henry Cooper porträtiert. Auf diese Weise wird zugleich das den Ring prägende Leitmotiv der Beziehungen zwischen Ruhm und Niedergang fortgeführt. Der Erfolg von Boxern ist besonders unbeständig und vergänglich. An Ali und Cooper können wir uns erinnern, aber die meisten Boxer geraten ebenso schnell in Vergessenheit wie Windhunde und Rennpferde. Im Ring zieht Kilpper Parallelen zur Kunstwelt, indem er ein Porträt von Leo Castelli einbezieht und neben Tony Shafrazis und Bruno Bischofbergers bekanntes Plakat von 1985 platziert, auf dem Warhol und Basquiat als Boxer dargestellt werden. Ähnlich wie bei einem erfolgreichen Box-Manager hielt Castellis Erfolg länger an als die Karriere seiner Kunden. Und über erfolglose abstrakte Expressionisten sagte er einmal: „Sie werfen mir vor, dass ich sie vernichtet hätte; sie geben mir die Schuld an ihrem Begräbnis. Aber sie waren schon vorher tot. Ich habe nur geholfen, ihre Leichen beiseite zu schaffen.“

In der Zeit des Rings wurde das Gebäude zugleich als Theater und Konzertsaal genutzt, wo man Stücke von Wagner und Händel hören konnte. Die Old Vic Company brachte im Ring – mit Robert Atkins und Leslie French – Shakespeares Heinrich IV zur Aufführung. (Der ursprüngliche Ring, Shakespeares legendäres Globe Theatre, war noch nicht wiederaufgebaut worden.) Alfred Hitchcock drehte 1926 im Ring seinen gleichnamigen Stummfilm, in dem sich ein Boxer in die Kartenverkäuferin verliebt. Auch Hitler hinterließ seine Spuren. Die NS-Luftwaffe bombardierte den Ring zweimal und führte so das Ende jener Ära herbei, in der in der Blackfriars Road Boxkämpfe und Theateraufführungen stattfanden.

Das heutige Bürogebäude, Orbit House, wurde in den sechziger Jahren für das Verteidigungsministerium errichtet, und im Auftrag des damaligen Ministers Denis Healey wurde hier eine geheime Druckerei der Armee untergebracht. Kilpper veranschaulicht diese Phase durch die Wiedergabe der ältesten abendländischen Darstellung einer Druckerei: eine Szene mit einem Totentanz (Lyon, um 1500). Das makabre Bild wirft die Frage auf, inwieweit Druckerzeugnisse im Laufe der Geschichte auch Kontrollinstrumente waren. Das Informationsmonopol der Kirche in der Epoche der Buchmalerei endete mit der Erfindung des Buchdrucks. Die europäischen Nationalstaaten erlebten eine Blütezeit, da es fortan möglich war, die Welt unbeeinflusst von religiöser Propaganda darzustellen. Die Welt war kein Geheimnis mehr, sondern eine überschaubare, kontrollierbare Sphäre, die es auszubeuten galt. (Das bezeugt zum Beispiel eine Nachbildung von Francis Drakes Galeone Golden Hinde aus dem 16. Jahrhundert, die in unmittelbarer Nähe des Orbit House vor Anker liegt.) Im Zuge der Entwicklung einer eurozentrischen Weltwirtschaft benötigte man Armeen und eine nationalistische Propaganda, um in den Kolonien neue Märkte zu erschließen und zu schützen. So gesehen brachte die Erfindung des Druckens sowohl Befreiung als auch Unfreiheit und Ausbeutung mit sich.

Kilpper macht darauf aufmerksam, dass die Fenster der geheimen Druckerei des Verteidigungsministeriums mit Zeitungen abgedeckt waren. Dieser Einsatz von Druckerzeugnissen als Unterdrückungsinstrument in der Phase, als das Gebäude vom Verteidigungsministerium genutzt wurde, wird im Ring durch die Reproduktion eines Zeitungsfotos zum Falkland-Krieg und durch ein Porträt von Bobby Sands veranschaulicht, das auf die Unruhen in Nordirland verweist.

Über 25 Jahre war im Orbit House hauptsächlich die Orientabteilung der British Library untergebracht. Die Herstellung von Büchern und folglich auch die Existenz von Bibliotheken sind natürlich untrennbar mit der Erfindung des Holzschnitts verknüpft. Im Jahre 1452 erfand Johannes Gutenberg bewegliche Lettern und nutzte die vorhandenen Erfahrungen mit Papier, ölhaltiger Tinte und Weinpressen, um die ersten Bücher zu drucken. Im belgischen Brügge produzierten William Caxton und Colard Mansion 1475 das erste gedruckte Buch in englischer Sprache, The Recuyell of the Historyes of Troye, und leiteten auf diese Weise eine Vereinheitlichung der Sprache ein. Die Druckerpresse ist jedoch keine rein westliche Erfindung, sondern das Ergebnis von Forschungen, bei denen verschiedene Technologien, die schon seit Jahrhunderten bekannt waren, an einem Ort zusammengeführt wurden. In der Orientabteilung der British Library befindet sich der Diamond Sutra (868 n. Chr.), der älteste datierte Holzschnitt der Welt, eine wichtige Quelle für die technischen Erkenntnisse der europäischen Drucker. Kilpper bringt den Diamond Sutra sowohl mit seiner eigenen Familiengeschichte als auch mit dem europäischen Kolonialismus in Verbindung.

Kilppers Vater wurde in China geboren, wo sein Großvater als Missionar tätig war. Kilpper erinnert an den Boxeraufstand, einen Protest gegen die Übergriffe der Europäer auf chinesischem Territorium und gegen die Aktivitäten christlicher Missionare. Die Boxer schlossen sich um 1899 zu einem Geheimbund zusammen, der sich „Die Faust der harmonischen Rechtschaffenheit“ nannte. Die Bewegung, deren Zentrum in Peking lag, erreichte im Juni 1900 ihren Höhepunkt. Einige christliche Missionare und zahlreiche chinesische Christen wurden ermordet. Kilppers Großvater wurde gekidnappt. Die ausländische Bevölkerung und viele einheimische Christen nahmen Zuflucht in der britischen Vertretung, wo sie den Boxern entschiedenen Widerstand leisteten.

Am 21. Juni erklärte China den westlichen Verbündeten den Krieg. Während der Gefechte wurde der Pekinger Sommerpalast zerstört. Die ausländischen Truppen blieben in Peking, bis im September 1901 ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde, das für China eine große Demütigung darstellte. Kilppers Mao Tse Tung verkündet: „Wir brachten einige eurer Missionare in die Berge, ihr brachtet unseren Diamond Sutra nach Europa – wir gaben sie zurück, ihr nicht…“

Das Orbit House steht seit einiger Zeit leer und soll demnächst abgerissen werden. Die Eigentümer haben die Absicht, ein neues und größeres Bürogebäude namens Southpoint zu errichten. Das Projekt kostet 90 Millionen Pfund und ist in diesem Teil Londons die größte private Investition seit 15 Jahren. In den papierlosen Büros werden mechanische Reproduktionsverfahren wie das Drucken obsolet sein. Das gedruckte Wort und das gedruckte Bild werden nun für die soziale Interaktion in Echtzeit und die individuelle Beschäftigung mit interaktiven Dokumenten genutzt. Der Informationsfluss verläuft digital, er vollzieht sich ohne jede Beschränkungen und Verzögerungen, ist aber sehr ungreifbar. Damit geht einher, dass die Ära des Nationalstaats vom Zeitalter des Cyper-Kapitalismus abgelöst wird.

Die Macht der umfassenden wirtschaftlichen Globalisierung hat dazu geführt, dass ganz Southwark sich verändert. In unmittelbarer Nachbarschaft des Orbit House wurde das von Giles Gilbert Scott entworfene Kraftwerk Bankside von den Schweizer Architekten Herzog und de Meuron zu einem Museum umgebaut und von einem Gebäude, das für eine Industrienation konzipiert wurde, in ein Gebäude umgewandelt, das der Kommunikation der globalen Informationsgesellschaft dient. Die erste Phase des Umbaus zur Tate Modern kostet 134 Millionen Pfund. Der Londoner Bezirk Southwark gehörte zu den ersten wichtigen Investoren, da man das enorme Potenzial des Projekts zur Modernisierung des Stadtteils und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze erkannte. Wie alle Dienstleistungsunternehmen wird auch die Tate Modern Arbeitsplätze schaffen, aber mit dem Umfeld, in dem sie sich befindet, nichts gemeinsam haben. Wenn sie nicht ignoriert oder ausgelöscht wird, wird die Geschichte des alten Markts und des Hafens von Southwark sorgfältig aufpoliert (das Globe Theatre, das Clink-Gefängnis, die Golden Hinde), um das Gebiet für umfangreiche internationale Investitionen attraktiv zu machen. Seit dem Ausbau der U-Bahnlinie Jubilee Line und kurz vor der Eröffnung von Norman Fosters neuer Brücke zwischen Bankside und City ist absehbar, dass bald die wohlhabende Mittelschicht in die aus der Zeit von Charles Dickens stammenden Gassen zieht. Die vielfältige Geschichte und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten dieses Stadtteils werden erneut einem Wandel unterworfen, der sich jedoch, wie der Ring deutlich macht, nicht ohne Kämpfe vollzieht.

Neil Mulholland ist Kunsthistoriker und unterrichtet zeitgenössische Kunstgeschichte an der Kunsthochschule in Edinburgh, Schottland

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Honrath.

Tief graben
Von Donna Lynas
Es gibt viele wichtige Gebäude, die zu Londons langjähriger Geschichte beitragen. Einige sind zu Symbolen, ja zu Monumenten geworden, die man in der ganzen Welt erkennt: die Houses of Parliament und Big Ben, St. Paul’s Cathedral usw. Die meisten von uns wissen, dass selbst die alltäglichsten Gebäude eine faszinierende Geschichte haben können, aber nur wenige nehmen sich die Zeit, diese Geschichte zu erforschen. Thomas Kilpper ist einer von ihnen.

Der in Stuttgart geborene Kilpper kam im Frühjahr 1999 nach London. Er hatte gerade ein Projekt in einer Turnhalle im ehemaligen US-Militärlager Camp King in Oberursel bei Frankfurt abgeschlossen. Bei diesem Projekt hatte er Szenen aus der Geschichte des Militärlagers wie auch Szenen aus seiner eigenen Biografie direkt in den Holzfußboden geschnitzt. Kilpper verfolgte das Ziel, in London ein Gebäude zu finden, in dem er ein ähnliches Projekt verwirklichen konnte. Es zog ihn spontan zum Stadtteil Southwark hin, vor allem weil dieses etwas heruntergekommene Gebiet seit einiger Zeit aufwendig saniert wird. Im Zuge dieses Sanierungsprozesses sind zum Beispiel einige bedeutende öffentliche Gebäude umgestaltet beziehungsweise neu gebaut worden: die Tate Modern, Shakespeares Globe Theatre, die neue Bibliothek in Peckham. Kilpper erforschte systematisch verlassene Gebäude in Southwark und entdeckte schließlich Orbit House, ein unscheinbares Bürohochhaus aus den fünfziger Jahren. Orbit House und Camp King haben wichtige Merkmale gemeinsam. Beide Gebäude wurden im Auftrag der Regierung für geheime, ja ominöse Zwecke errichtet, und die allgemeine Öffentlichkeit hatte nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen Zugang zu ihnen. Kilpper enthüllte die verborgene Geschichte der beiden Orte, indem er Holzschnitte realisierte, die er zu einem festen Bestandteil des jeweiligen Gebäudes machte. Die Geschichte des Orbit House wurde auf besonders dramatische Weise enthüllt, als Kilpper – für alle sichtbar – einen riesigen Stoffabdruck seines Holzschnitts an die Fassade des Gebäudes hängte.

Kilppers Herangehensweise ist die eines Künstlers. Er ist definitiv kein Sozialhistoriker. Denn er gräbt nicht nur die Lebensgeschichten lange vergessener Personen aus, sondern integriert auch Elemente seiner eigenen Biografie in das sich immer weiter ausdehnende Werk: persönliche Interessen, Freunde und Bekannte, politische Überzeugungen. Dieser Prozess vollzieht sich parallel zu Kilppers physischen Interventionen in den Raum. Er schnitzt Szenen aus den von ihm aufgedeckten Geschichten direkt in den Parkettboden und greift dadurch in die Substanz des Gebäudes selbst ein. Das vollendete Werke ist groß, sehr groß, im Falle des Orbit House 400 qm, das Resultat monatelanger, anstrengender Arbeit.

Die Erkundung des Orbit House begann damit, dass Kilpper entdeckte, dass sich an diesem Ort ein bekannter Boxring – Der Ring (The Ring) – befand. Der Inhaber der Kneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite erzählte ihm vom Aufstieg und Fall des Rings. Immer neue Fakten kamen zum Vorschein, immer mehr Personen traten auf den Plan, deren Porträts dann in den Fußboden des Orbit House geschnitzt wurden. In dem Maße, in dem Kilpper neue Kontakte knüpfte und auf neue Geschichten und Querverbindungen stieß, breitete sich auch sein Holzschnitt immer weiter aus. Es ist ihm gelungen, eine wahrhaft atemberaubende Fülle von Einzelinformationen zu verarbeiten. Er fand heraus, dass das Gebäude, in dem sich der Boxring befand, ursprünglich eine oktagonale Kapelle aus dem 18. Jahrhundert war. Diese Kapelle barg ihrerseits zahlreiche interessante Geschichten, die gleichfalls in Kilppers Arbeit veranschaulicht werden. Das Gebäude wurde während des Blitzkriegs von der Luftwaffe bombardiert und zerstört. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass anschließend das Verteidigungsministerium das Orbit House erbauen ließ und dort eine geheime Druckerei einrichtete. Später übernahm die British Library das Gebäude und brachte hier ihre Orient-abteilung unter.

Kilpper erweckt reale Menschen zu neuem Leben, Menschen, die wirklich existierten und in der Geschichte jenes kleinen Teils von London eine Rolle spielten. Seine Arbeit führt vor Augen, dass wir jederzeit die Möglichkeit haben, das riesige Potenzial der Vergangenheit zu erforschen – wir müssen es nur wollen. Wenn man Kilppers Werk betrachtet, ist das so ähnlich, wie wenn man mit älteren Familienmitgliedern darüber redet, wie es früher war, in jener Zeit, die unwiederbringlich vorüber ist. Es könnte furchtbar traurig sein, sich klar zu machen, dass all jene Menschen, die ein ebenso erfülltes Leben geführt haben, wie wir es heute tun, nach ihrem Tod in Vergessenheit geraten sind. Doch Kilppers Arbeit hat eine überwältigend positive Ausstrahlung. Indem er Geschichten erzählt, die unsere Umwelt lebendig werden lassen, bringt er uns dazu, darüber nachzudenken, wie oft wir diese Umwelt übersehen. Er macht uns bewusst, dass wir in kontinuierlicher Verbindung zur Vergangenheit stehen und jeder von uns einen eigenen Beitrag zur Geschichte leistet. Die Vergangenheit lebt, es geht ihr gut, und man begegnet ihr manchmal an den seltsamsten Orten.

Donna Lynas
Kuratorin, South London Gallery

Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Honrath

Thomas Kilpper nahm Kontakt zur South London Gallery auf, um Unterstützung für sein Anliegen zu finden, die Arbeit im Orbit House der Öffentlichkeit zu zeigen. Wir waren gern bereit, dieses Vorhaben im Rahmen unserer SLG Projekte zu verwirklichen, einem Programm, das uns die Möglichkeit bietet, auch außerhalb der Galerie Kunstprojekte zu initiieren und Ausstellungen zu organisieren. Die Ausstellung Der Ring lief vom 11. bis zum 26. März 2000. Die Zukunft von Kilppers Arbeit im Orbit House ist ungewiss. Das Gebäude – und damit auch Kilppers Werk – wird sehr wahrscheinlich abgerissen. Alsop und Störmer, die Architekten des geplanten Neubaus, haben vorgeschlagen, die Arbeit in das neue Gebäude zu integrieren, aber die Eigentümer des Orbit House zögern noch, dem zuzustimmen. Ein Teil des Holzschnitts bleibt aber auf jeden Fall erhalten. Er ist zusammen mit einigen Drucken für die Sammlung der Tate Modern angekauft worden. (D.L.)

Mao in Neon. London Knocks von Thomas Kilpper. Von Silke Hohmann

Wer Madonna, Andreas Baader, Hitler, einen unbekannten Londoner und Muhammad Ali unter völliger Gleichbehandlung nebeneinander hängt, braucht dafür einen guten Grund. Er muss nachweisen, dass es eine Verbindung gibt, die Diktator und Bürger, Popstar und Revolutionär gleich macht. Er muss die Geschichte erzählen, die sich zwischen ihnen abgespielt hat, damit daraus eine Information wird und die Aneinanderreihung ihrer Abbilder nicht beliebig bleibt.
Thomas Kilpper hat seine Protagonisten auf Stoffbahnen gedruckt und in der Schulstraße 1A auf einer Wäscheleine aufgereiht. Da wehen sie sanft hin und her, doch ihre gemeinsame Geschichte erzählt sich nicht von selbst. Die Ausstellung „London Knocks“ kommt ohne gewisse Mitteilungen nicht aus, aber die sind sehr spannend: Alle Fäden laufen im wenig prominenten Londoner Stadtteil Southwark zusammen, und dort hat auch die derzeit ausgestellte Arbeit des 1956 geborenen Kilpper ihren Ursprung. Das hätte dem unscheinbaren Bürokomplex „Orbit House“ keiner zugetraut: Eine berühmte Boxarena namens The Ring befand sich in dem Fünfziger-Jahre-Bau vor dem Krieg, noch früher eine achteckige Kapelle aus dem 18. Jahrhundert, und eines der ersten Kinos in London. In der Nachkriegszeit richtete das Verteidigungsministerium dann eine geheime Druckerei ein, und spätestens an diesem Punkt seiner Recherchen muss Kilpper gewusst haben, dass er im Orbit House an der richtigen Adresse ist. Hatte er doch kurz zuvor auf dem Fußboden der Turnhalle des ehemaligen US-Militärlagers Camp King in Oberursel einen gigantischen Holzdruck fertiggestellt und war auf der Suche nach einem ähnlich geeigneten Gebäude in London. Im zehnten Stock stellte man ihm 400 Quadratmeter Mahagoniparkett zur Verfügung. Doch der ehemalige Städelschüler beutete das zum Abriss vorgesehene Gebäude nicht einfach aus.

Mit den in den Fußboden geschnitzten Portraits vermachte er dem Haus ein Archiv seiner Geschichte. Denn die von ihm eingravierten Personen haben hier direkt oder indirekt Station gemacht. Shakespeare, indem er Stücke schrieb, die hier aufgeführt wurden. Hitler, indem er The Ring zwei Mal bombardieren ließ. Kilppers britischer Nachbar Henry Abraham, weil er als junger Mann hier Boxkämpfe ansah. Alfred Hitehcock, weil er hier 1928 seinen Film The Ring drehte. Und Richard Wagner, weil er eben auch einen Ring komponierte, wenn auch den des Nibelungen. Das Gespinst von Kilppers Verweisen ist dabei keiner Wissenschaftlichkeit verpflichtet, schließlich ist er Künstler und nicht Historiker.
Die Abdrucke seines monumentalen Bodenbildes füllen die Galerie in der Schulstraße wie eine Raumskulptur. Unter den Orbit-House-Gesichtern finden sich immer wieder Konterfeis, die so bekannt sind, dass sie mittlerweile selbst zum Zeichen geworden sind. Sie sind die prominenten Akteure des Ring, und trotzdem sind sie nur Stellvertreter für etwas anderes, nicht so leicht Abzubildendes. Marlene Dietrich oder Benno Ohnesorg und die junge Frau, die dem Sterbenden den Kopf hält, sind da auf löchriges Tuch gedruckt. Auch für Kate Moss oder Mao auf Neon gibt es keinen ersichtlichen Grund. Außer dem, dass Kilpper es ist, der hier die Geschichten erzählt. Besserwisserei gilt nicht, denn wer sollte es besser wissen? So hat es auch mit der Darstellung einer riesigen, aber auf grellbuntem Stoff fast nicht zu erkennenden Vagina samt daran herumfummelnder Hand sicher seine Bewandtnis – und sei es nur als kleiner, weitgehend unbemerkter Scherz bei so viel Andacht im Angesicht der Geschichte.

De Ligt, Schulstraße 1A, bis 1. Oktober.
(Frankfurter Rundschau vom 21.09.2000)

Portraits und andere Drucke
Rowland Hill Pfarrer + Begründer der Surrey Kapelle
Len Harvey – Dick Burge – Alf Manzini – Fredie Mills – Jack Hood – Billy Wells – Jack Stanley – Phil Scott – Jack Powell – Kid Socks – Johnny Curley – Georges Carpentier Boxer vom „Ring“
Muhamad Ali – Henry Cooper Boxer
Moss de Young Schiedsrichter im Ring
George Harris Zeremonienmeister am The Ring
Dan Sullivan Manager von Boxern wie z.B. von Len Harvey
Bella Burge Managerin des Ring
Text {Bella Burge): „Willkommen beim Boxeraufstand“, in chinesischer Schrift: Gerechtigkeit, Friede, Faust, Rebellion
Marie Lloyd Musical Sängerin, adoptierte Bella Burge
The 8th Marquess of Queensberry Begründer der Regeln des Boxsports
Apple Tree
Alfred Hitchcock Filmemacher, drehte im Ring Teile seines gleichnamigen Stummfilms
Carl Brisson Schauspieler, spielte den Boxer in Hitch’s Film
Gordon Harker Schauspieler, spielte den Trainer in Hitchcock’s Film The Ring
John Mumford Konservator der Orientalischen Sammlung der British Library, OIOC
Tim Thomas Leser Service der Britisch Library
Ein Bücherstapel
Japanischer Holzschnitt (Genitalien einer Hure, aus einem Bordellführer, spätes 18. Jh.
Diamon Sutra, 868 n.Chr ältestes gedrucktes Buch, im Eigentum von OIOC, wurde im Orbit House aufbewahrt
Sir Aurel Stein entdeckte den Diamond Sutra und brachte ihn von China nach London
Johannes Gutenberg gilt als Erfinder der beweglichen Lettern (1452)
William Caxton druckte 1475 das erste Buch auf englisch
Anthony Panizzi Italienischer Rebell, Mitbegründer des British Museum und British Library
Charles Wilkens begann Drucken und Sammeln von Büchern und Kunstdrucken für die britische Kolonialregierung in Indien
Patrik Wright Leitender Direktor der Brit. Museum Company
Figurine aus Elfenbein, ca 4000 v.Chr., British Museum, Bestandsnummer EA 32141
Charles Dickens Schriftsteller, als Schüler kam er täglich an der Surrey Kapelle vorbei
William Shakespeare Shakespeare-Stücke wurden im Ring aufgeführt
Ho-Chi-Minh vietnamesischer Politiker und Revolutionär
Andreas Baader – Gudrun Ensslin – Ulrike Meinhof – Monika Berberich Mitglieder der RAF, die ihren Kampf an der Seite des Vietcong begann
Benno Ohnesorg Student, der 1967 von der Polizei während der Demonstration gegen den Schah von Persien in Berlin erschossen wurde
Hilary Cresk Mitglied der Angry Brigade, ca 1975
Bobby Sands starb 1981 während einem Hungerstreik im Gefängnis, Mitglied der IRA und Abgeordneter des Parlaments
Guy Debord Philosoph, Mitglied der „Situationistischen Internationale“, schrieb das Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“
Denis Healey Politiker, gab als Verteidigungsminister den Auftrag zum Bau des Orbit House
Die älteste mittelalterliche Darstellung einer Druckerei, Lyon 1500, „Totentanz“
Soldatenfrau ihre Brüste zeigend, beim Auslaufen der Royal Navy zum Falklandkrieg
Winston Churchill Mitglied der englischen Kavallerie in Indien
Adolf Hitler die NS-Luftwaffe bombardierte den Ring zweimal
Karl Barth war Chef des NS-„Durchgangslager Luft“ in Oberursel bei Frankfurt/Main
Kampfflugzeug aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs
Robert Atkins Schauspieler und Theatermanager des Old Vic, organiserte die Shakespeare-Aufführungen im Ring
Leslie French Schauspieler, spielte auch im Ring (Shakespeare)
Mata Hari Tänzerin, wurde im ersten Weltkrieg als Spionin vom Französischen Militär hingerichtet
Madonna Sängerin, Schauspielerin
Marlene Dietrich Schauspielerin
Kate Moss model
Mona Lisa
Leo Castelli Amerikanischer Galerist, starb 1999, vertrat u.a. auch Warhol
Nicholas Serota Director der Tate Gallery
Werbetext der Tate, leicht abgewandelt: „Der Ring und die Tate Gallery of Modern Art bringen wertvolle kulturelle, gesellschaftliche und ökonomische Nutzen für den Bezirk von Southwark, für London und das Vereingte Köngreich als Ganzes“
Will Alsop Architekt, bekam den Auftrag für den Neubau „Southpoint“ an diesem Ort
Stuart Bailey Eigentümer des Orbit House
Johnny Spence – Stephan Dillemuth – Josephine Pryde – Merlin Carpenter – Alex Hamilton – Sarah Staton – Dan Mitchell – Anthony Davies Künstler und Freunde
Rosalina Glogan Baby von Künstlerfreunden, geboren 1999
Thomas Kilpper auf den Knien im Laufstall …
Gilbert & George – Andy Warhol – Michael Basquiat – Sigmar Polke – Holbein the Younger Künstler
Henry Abraham Kilppers Nachbar im Osten Londons, war als Jugendlicher als Zuschauer im Ring
Klara Kilpper T. K’s Großmutter, lebte in China
Gerhart Kilpper T. K’s Vater, geboren in China
Irmgard Kilpper Gerhart K’s Schwester, lebte in China
Martin Kilpper T K’s Bruder
Michael Schumacher Rennfahrer Formel 1
Louisa Raeburn
Mao Tse Tung chinesischer Revolutionär, Philosoph und Politiker
Chinesischer Text (Mao): „Wir brachten einige eurer Missionare in die Berge, Ihr brachtet unseren Diamond Sutra nach Europa – Wir gaben sie zurück, Ihr nicht.“
Sigmund Freud kam als Flüchtling vor den Nazi’s nach London
Karl Marx schrieb sein Hauptwerk „Das Kapital“ in der British Library
I. Lenin lebte einige Jahre in London
Frau oder Herr Schwein – Frau und Herr Ratte – Erna the Crow – Mr Fox
Richard Wagner Komponist des „Ring“
Hans Richter dirigierte die Uraufführung von Wagners Ring
G. F. Händel komponierte den „Messias“
Sir George Smart dirigierte Händels „Messias“ an diesem Ort
Tommy Smith Sprinter, gewann die olympischen Goldmedaille 1968 und protestierte mit erhobener, schwarz behandschuhter Faust
John Carlos Sprinter, gewann 1968 Silber und protestierte zusammen mit Tommy Smith.
Ein Filmprojektor von 1907, als die Kapelle ein Kino war
Wandbild, schreiendes asiatisches Kind gegenüber vom Rathaus in Hackney.

Fotos

Drucke

Happy together | Frankfurt-Preungesheim | 1998-2000

Projekt im Knast Frankfurt-Preungesheim, 1998-2000
Vom Justizministerium nicht genehmigt.

Skizze 
HAPPY TOGETHER. Thomas Kilpper 2001
Ich hatte die Absicht, im leerstehenden Männergefängnis Frankfurt-Preungesheim, JVA I, eine künstlerische Arbeit durchzuführen. Ich plante einen physischen Eingriff, der mehrere Wochen in Anspruch genommen hätte. Im Anschluß daran sollte das Ergebnis als Ausstellung vor Ort präsentiert werden. Dieses Projekt wäre in vielerlei Hinsicht zur Herausforderung für mich geworden. Ich wollte an diesem durch und durch feindlichen Ort arbeiten, den ich aus eigener Erfahrung kenne und der aufgeladen ist mit Aggression und Gewalt wie kaum ein zweiter. Gefängnis: der Ort systematisierter Entsozialisierung und Deprivation. In dieses System wollte ich so massiv wie möglich eingreifen – einschneiden in die Stahltüren, die Zellenwände und -böden, Bilder und Texte herstellen, die mit dem ganzen Komplex staatlichen Strafens im Zusammenhang stehen. Daneben sah mein Entwurf eine Arbeit im Außenraum vor: auf dem Dach wollte ich die Worte „happy together“ anbringen. Gleichsam einem Werbeslogan oder Konzernlogo sollten sie weithin sichtbar auf diesen Ort aufmerksam machen. Ein Hinweis, daß staatliches Strafen in früheren Zeiten – in zahlreichen Ländern ist es heute noch so – vor allem ein öffentlicher Akt war. So wie Strafe – und insbesondere der Freiheitsentzug – hier und heute praktiziert wird, findet sie vorwiegend hinter hohen Mauern, quasi im Verborgenen statt.

Im Oktober 1998 stellte ich dem damaligen Hessischen Justizminister Rupert von Plottnitz (die Grünen) mein Konzept schriftlich vor und bat um eine Genehmigung. Ich erhielt dabei Unterstützung sowohl von Kasper König, dem damaligen Rektor der Städelschule, als auch von Claudia Scholtz, der Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung. Doch außer einer Ortsbesichtigung in Begleitung des ehemaligen Gefängnisleiters und eines Angestellten aus dem Justizministerium konnte ich nichts erreichen. Die Begründung lautete: über den Abriss sei noch nicht entschieden. Mir kam dies wie ein Vorwand und nicht wie ein einleuchtender Grund für eine generelle Ablehnung vor, denn ich hatte von Anfang an deutlich gemacht, gegebenenfalls auf Eingriffe in die Gebäude-Substanz zu verzichten und lediglich mit Video, Fotografie und Linolschnitt zu arbeiten. Es wurde mir „anheimgestellt”, mich bei veränderter Sachlage erneut an das Ministerium zu wenden.

Im Mai 2000 erfuhr ich aus der Presse, daß die Entscheidung zum Abriß gefallen war. Ich schrieb erneut an das Justizministerium – inzwischen Teil der CDU-geführten Landesregierung. Aufgrund deren konservativer Ausrichtung waren meine Erwartungen nicht sehr groß. Wie zur Bestätigung erhielt ich rasch eine erneute Absage, nun mit der Begründung, daß die Abrißarbeiten „in Kürze beginnen werden“. Faktisch hat es noch über 6 Monate gedauert, bis die Bagger anrückten.

Rot-grüne Regierung hin, schwarz-gelbe her – ein künstlerischer Eingriff in einem ehemaligen Gefängnis ist bei der Hessischen Justiz unerwünscht. Ob es der zu befürchtende öffentliche Blick hinter die Gefängnismauern und Zellentüren oder meine kritische Haltung gegenüber Strafvollzug und Staat war, die für die Ablehnung ausschlaggebend waren, sei dahingestellt. In jedem Fall ist es ein kulturelles Armutszeugnis.

Die Entscheidung zur Schließung und zum Abriß dieses Monstrums mag durch den Besuch von Vertretern der UN-Menschenrechts-Kommission beeinflußt worden zu sein. Sie hatten hier „menschenunwürdige Haftbedingungen“ festgestellt. Ein Abrücken von der Politik des Kriminalisierens und Wegsperrens signalisiert sie jedenfalls nicht, denn die nächsten Knastbauten sind bereits geplant, die Fundamente schon ausgehoben, damit in Hessen mehr Gefangene als je zuvor hinter hohen Mauern, möglichst unbemerkt von der Öffentlichkeit, gefangengehalten werden können. So kommt zum kulturellen das passende politische Armutszeugnis hinzu. Das macht die Sache zwar nicht besser, aber immerhin rund.

Thomas Kilpper
Januar 2001

Beschreibung: HAPPY TOGETHER. Thomas Kilpper 1998
[Arbeitstitel für eine Künstlerische Arbeit in der ehemaligen Justizvollzugsanstalt I (JVA I) Frankfurt – Preungesheim]

Ich möchte mit meiner Arbeit auf diesen Ort, seine Funktion und konkrete Beschaffenheit formal und inhaltlich eingehen. Ich möchte in einem physischen Arbeitsprozess Bilder, die im Kontext dieses Ortes stehen, Bilder zu der Thematik „Strafe und Disziplinierung – Aggression und Verbrechen – Macht und Ohnmacht – Freiheit und Gefangenschaft“ in den Boden, die Wände und (Zellen-)Türen schneiden und meisseln. Ich würde gerne sowohl mit meiner Körperkraft als auch mit Hilfe von Maschinen wie Oberfräse, Flex / Trennschneider u.ä. durchführen. Die Arbeit würde sich auf eines der Stockwerke im Zellentrakt erstrecken. Auf der Bodenfläche könnte so einer der größten je geschaffenen „Linolschnitte“ entstehen. Der durchgängige ca. 4mm starke Kunststoffbelag scheint mir dafür gut geeignet zu sein. Die verschiedenen Motive würde ich anschließend einschwärzen und auf Stoff oder Papier abdrucken.

Einen Teil der Arbeit will ich dem Rückblick in die Geschichte des Strafens (bis zur „Geburt des Gefängnisses“) widmen.
Ein anderer Teil wäre, signigikante Äußerungen der Inhaftierten (Wandzeichnungen, Comics, Sprüche, Zeitungsartikel, etc…) in dem Gebäude systematisch zu suchen und zu photografieren und in die Arbeit einfließen zu lassen.
Ein dritter Aspekt wäre, meine subjektiven Erfahrungen (Stichwort: „Was habe ich mit dem ganzen zu tun?“) darin einzuflechten.

Dieses Projekt würde in mehrerer Hinsicht die konkrete Weiterentwicklung meiner letzten Arbeit im ehemaligen US-Militärlager Camp King in Oberursel bedeuten. Hier entstand ein riesenhafter Holzschnitt, für den die Verbindung „offizieller“ mit persönlicher Geschichte einen wesentlichen Ausgangspunkt darstellte.

Künstlerisch-technisch betrachtet, möchte ich also im wesentlichen vorgefundene Substanz „wegnehemen“ und so den Ort und Raum neu definieren. Ich praktiziere damit also das klassische bildhauerische Vorgehen schlechthin.

Ergänzend / Parallel zu dieser Arbeit im Inneren des Gebäudes möchte ich mit der Fassade und somit der Wirkung in den Außenraum arbeiten.
Die Idee ist, einen Text in großen Buchstaben um das oberste Stockwerk herumlaufen zu lassen. Z.B. „happy together“ (Rückseite), „feel me, touch me, kiss me, hurt me“ (Vorderseite zur Kreuzäckerstraße hin). Das Gebäude wird so zum unmittelbaren Bild- und Sinnträger. (Der genaue Text muß noch erarbeitet werden.)

Der Gedanke, einen Teil der Arbeit auch in den Außenraum zu orientieren, hat einen geschichtlichen Hintergrund. Strafen war in früheren Zeiten – in manchen Ländern ist es das heute noch – vor allem ein öffentlicher Akt. So wie die Strafe, insbesondere der Freiheitsentzug, hier und heute strukturiert ist, findet sie im wesentlichen hinter den Mauern, quasi im Verborgenen, statt. Dieser Teil meiner Arbeit – mit der Wirkung in den öffentlichen Raum hinein – wäre sozusagen ein Verweis auf diese Geschichte und den öffentlichen Charakter und Anspruch des Bestrafens.
Neben den hier angerissenen gibt es noch andere alternative Projektideen. Meine Präferenzen gelten aber eindeutig den hier entwickelten Vorstellungen.

Zur Realisierung:
Mein Wunsch wäre, die Arbeit im kommenden Frühjahr (März) zu beginnen. (Die Photodokumentation der Einritzungen in den Zellenwänden würde ich gerne eher erstellen, um mit den Vorbereitungen – wie z.B. die Auswahl der Motive – anfangen zu können.) Die Ermöglichung einer Ausstellung nach Fertigstellung der Arbeit an Ort und Stelle wäre natürlich sehr wünschenswert.

Meine Vorstellung ist, neben der Arbeit auf der Fassade, im Inneren des Gebäudes sowohl den Druckstock (das sog. „Negativ“) als auch die Drucke (also das „Positiv“) zu zeigen. Anhand der auf Wäscheleinen aufgehängten Drucke würde der Raum auf neue, künstlerische Art strukturiert und gegliedert.

Thomas Kilpper
Frankfurt/Main
November 1998

Rundgang

Don’t look back | Camp King Oberursel | 1998/2002

Bei don’t look back stand ich einem riesigen Raum und einer monströsen Geschichte gegenüber: das Camp King bei Frankfurt/Main wurde nach 1945 vom US-Geheimdienst zu Verhören von Nazi-Größen genutzt, hier wurde ausgesiebt, wer vor Gericht gestellt oder in amerikanische Dienste integriert wird. Im 2. Weltkrieg war der Ort das zentrale Gefangenenlager der NS-Luftwaffe, wo sämtliche abgeschossenen alliierten Piloten verhört wurden.
In der ehemaligen Basketballhalle habe ich 300qm Parkett zerschnitten und umgewandelt in einen Druckstock. Mittels Holzschnitt, habe ich mich in diesen Ort eingeschrieben und ihn quasi besetzt, um mich so seiner Geschichte anzunähern und in den Prozeß seiner Transformation – von militärischer Nutzung, Leerstand, zu Abriss, Neubau und ziviler Nutzung – zu intervenieren. Bildträger waren modernste Fasern und digital bearbeitete Poster aus der Werbung.

Don't look back von Angelika Nollert (1998)
don’t look back— Dies ist der Titel einer Arbeit des Frankfurter Künstlers Thomas Kilpper [1956] die er auf beständige. aber äußerst mühsame Weise in einer Turnhalle im ehemaligen US-Militärlager Camp King in Oberursel geschaffen hat.
Es handelt sich um einen in seinen Ausmaßen gigantischen Holzschnitt, dessen einzelne Szenen sowohl auf die Geschichte des Ortes Bezug nehmen als auch die Biographie des Künstlers reflektieren.
Das Camp King war während des Dritten Reiches zunächst Reichssiedlungshof der NS, später Durchgangslager der Luftwaffe für die gefangenen alliierten Piloten und wurde noch Ende des Zweiten Weltkrieges von der US-Armee und dem CIA übernommen. Kilpper ist geprägt von der Zeit des Kalten Krieges sowie den politischen Entwicklungen der siebziger und achtziger Jahre und setzt sich mit der Vergangenheit seines Vaters als Angehöriger der Wehrmacht auseinander. Er verweist in einigen Motiven auf sich selbst. Damit findet die allgemeine Geschichte einen Widerhall in der privaten. Die eigene Biographie wird vom Künstler vor diesem Hinterprund gespiegelt.
Seit 1993 plant die Stadt Oberursel eine zivile Neubebauung des Geländes. Aber noch heute erzeugt die Verlassenheit dieses ehemals militärischen Areals eine surreale und morbide Atmosphäre.
Die Auswahl dieses Ortes durch den Künstler folgte zunächst nicht inhaltlichen oder ästhetischen Überlequngen, sondern vor allem pragmatischen Gründen. Zur Realisierung eines überdimensionalen Holzschnittes suchte Kilpper ein zum Abriß bestimmtes Gebäude mit Parkettboden und fand in dem Eichenfußboden der freistehenden Turnhalle innerhalb des Camp King den idealen Druckstock. Die Ortswahl führte zu einer Erforschung der Örtlichkeit und inhaltlichen Auseinandersetzung mit ihr, die der Künstler in erzählerischer Falge in einzelnen Szenen auf dem Holzboden darstellt. Die einzelnen Motive hat er dann auf Papier, Tapete und Stoff gedruckt und an Leinen in den Raum gehängt. So erfährt der Besucher zugleich Positiv- und Negativabbildungen eines Motivs und durchschreitet gleichsam lesend den Raum. Die Arbeit Kilppers ist ohne den spezifischen Ort nicht denkbar. Sie ist in der Turnhalle in situ geschaffen. Eine Bewahrung der Arbeit unabhängig vom Gebäude erschien daher zunächst nicht denkbar. Das Werk hat jedach in der Bevölkerung ein Bewußtsein für die eigene Historie bewirkt, und so gibt es nun einen Plan vom Magistrat der Stadt, die Arbeit in Beton zu gießen und als „Streetball“-Feld dauerhaft zu installieren. Hierzu wurde der Boden bereits in Einzelteile zersägt und gesichert. Nun ist zu wünschen, daß der Plan auch finanziert und in der Falge realisiert wird. Damit wäre dem Ort und den von ihm abhängigen menschlichen Schicksalen ein bleibendes Zeichen gesetzt.
Keine Atempause, Geschichte wird gemacht von Martin Pesch (1998)
Zu Thomas Kilppers „Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wiederfinden?“

„Doch Grau enttäuscht auf farbigen Vergrößerungen immer,graue Töne sollte man möglichst vermeiden, warten, bis es aufklart.“ Felix Philipp Ingold

Geschichte, sagt man, prägt. Der Gemeinplatz vertuscht, was eigentlich geschieht: Die Menschen prägen die Geschichte. Zweifellos läßt sich das eine nicht gegen das andere aufwiegen, es bleibt eine Spannung, eine unauflösbare Dialektik, durch deren Dynamik unklar wird, ob man den Umständen gegenüber eine bestimmte Position inne hat, oder ob man sie von ihnen – den berühmten sozialen, politischen und gesellschaftlichen Umständen – zugewiesen bekommt. Und das, was man sich als Erklärung der eigenen Situation im Großen und Ganzen zurechtlegt, ist, auch wenn es pompös als Geschichte bezeichnet wird, immer nur eine Geschichte – interpretiert in gewissem Sinn, so objektiv die Darlegung auch intendiert sein mag.
Thomas Kilppers Holzschnitt in der ehemaligen Baskettballhalle auf einem geschichtsträchtigen Gelände in Oberursel, ist konkret und metaphorisch in diesem Problemfeld verortet. Mit dieser Arbeit versucht er, eine Position in der Gegenwart zu besetzen, aus der Überzeugung heraus, daß dies ohne die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht möglich ist. In den Parkettboden hat Kilpper auf einer Fläche von über dreihundert Quadratmetern Motive gefräst und geschnitzt, die mit der Geschichte des Ortes, den Schicksalen der dort tätig gewesenen Menschen und seiner eigenen Biografie zu tun haben.
Die Motivreihe beginnt bei der Missionarstätigkeit von Kilppers Urgroßvater in Südostasien, sie bekommt einen ersten Schwerpunkt aber in der Zeit des 2. Weltkriegs. Das Gelände war ein Sammellager für gefangene Luftwaffenpiloten der Alliierten. Sie wurden hier verhört und interniert. In dieser Zeit herrschte eine, den Werten der sogenannten Soldatenehre verpflichteten Atmosphäre. Diese führte zu den auch von Kilpper verwendeten Äußerungen des Respekts für die verfeindeten Offiziere: „You had your job, and I had mine.“
Am Ende des Krieges wurde das Gelände von US-Streitkräften übernommen und hauptsächlich zu geheimdienstlichen Zwecken benutzt. Der Feind waren nun nicht mehr die deutschen Streitkräfte, sondern die kommunistische Sowjetunion. Mit den ehemals verfeindeten Nationalsozialisten wurde nun partiell zusammengearbeitet. Mit der „Operation Paperclip“ versuchten die US-Amerikaner, deutsche Wissenschaftler und Teile der politischen Elite für ihre Zwecke zu instrumentalisieren, und sie entbanden diese damit der Verantwortung für deren Arbeit im NS-Staat. Im Zuge dieser Aktion konnte etwa Klaus Barbie von Oberursel aus nach Bolivien entwischen. Und Reinhard Gehlen, vormals Chef des NS-Geheimdienstes „Fremde Heere Ost“, gründete in Oberursel den westdeutschen Auslandsnachrichtendienst, den Vorläufer des späteren Bundesnachrichtendienstes. Die an diesen beiden Beispielen sichtbare personelle Kontinuität und die über ideologische und politische Brüche hinweg beständigen Machtverhältnisse sind für Kilppers Arbeit ausschlaggebend. Sie verfolgt er bis in die aktuelle Zeit hinein. Das Bild der Hinrichtung eines Angehörigen des Vietcong (in Oberursel wurden US-Soldaten zur Zeit des Vietnamkriegs im Anti-Guerillakampf ausgebildet) und das Bild der Entführung von Hanns-Martin Schleyer (der als ehemaliges SS-Mitglied mit Führungsposition in Osteuropa und als späterer Präsident des bundesdeutschen Arbeitgeberverbandes Exponent der erwähnten personellen Kontinuität auf hoher politischer Ebene war) sind Beispiele dafür. Hier kommt Kilppers eigene Biografie ins Spiel. Sie ist von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit seines Vaters als Angehöriger der Wehrmacht und den politischen Auseinandersetzungen in den siebziger und achtziger Jahren im linksradikalen Umfeld geprägt.
Durch die Bildmotive, die weder thematisch noch chronologisch streng geordnet sind, läßt Kilpper die Frage laufen: „Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wiederfinden?“ Diese Frage zielt auf den Verlust der Differenzierungen in der politischen Auseinandersetzung und der Beschäftigung mit der Geschichte. Nicht umsonst benutzt Kilpper als Vorlagen allgemein bekannte und medial oft verwendete Fotos. Er erleichtert damit einerseits den Zugang zur politischen Intention seiner Arbeit, weist andererseits aber auch auf den nur vermeintlich einfachen Zugang zu der historischen Entwicklung hin, in der wir stehen. Denn die verläuft keineswegs an den Polen Schwarz und Weiß, Gut und Böse. Ihr Verständnis verlangt weit mehr als eine auf simple Signalwirkung setzende mediale und pädagogische Vermittlung.
Das Klischee des Geprägtwerdens durch die Geschichte dreht Kilpper um – er benutzt es im druckgrafischen Sinn. In mühevoller und langwieriger Arbeit hat er Geschichte in den Boden gestemmt. Er hat den Geschichte zeigenden Motiven durch den Akt der körperlichen Arbeit seine Prägung gegeben. Er hat sie sich im wahrsten Sinn des Wortes angeeignet. Das Gefühl des Überwältigtwerdens von der Geschichte hat er in der Arbeit an diesem Holzschnitt in die Energie des Überwältigens umgewandelt. Daß er dabei den Parkettboden zerstört, ihn mit Kreissäge und Fräse zerschnitten hat, ist nicht der unwichtigste Aspekt. Denn der einst funktionale, für das Baskettballspiel benutzte Fußboden kann als Sinnbild einer fertiggeschriebenen und unveränderbaren Geschichte gesehen werden – die von Kilpper ihrer Autorität beraubt wird. Seine Arbeitsweise ist auch mit der des Sampelns im Hip Hop zu vergleichen. Genauso wie dort afroamerikanische Musiker bestimmte Elemente einer „weiß“ geprägten Popgeschichte verwenden, um einer eigenen Tradition bewußt zu werden, verwendet Kilpper Samples aus der „offiziellen“ Geschichte, um sie mit seiner eigenen zu konfrontieren, um sie zu seiner eigenen zu machen.
Das Problem der bloßen Umkehrung hat er formal gelöst. Denn der riesenhafte Holzschnitt ist als solcher bestenfalls eine Hälfte der Arbeit. Er ist sozusagen nur das Werkzeug für einen weiteren Schritt. Denn die gesamten Motive sind spiegelverkehrt zu sehen. Der Holzschnitt ist also ein Negativ. Von ihm wiederum kann man Abdrucke nehmen, die die Motive seitenrichtig zeigen. Er ist der Druckstock für die Bilder, die Kilpper auf verschiedene Materialen druckt. Deren Beschaffenheit und Herkunft spielen bei der Verwendung eine Rolle. Die Gardinen und Tapeten stehen für die Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum, während Werbeplakate und der Flaggenstoff an sich für unterschiedliche Formen der Beeinflussung durch Symbole und Identitätsangebote benutzt werden. Kilpper hängt die unterschiedlichen Drucke größtenteils an Leinen im Raum der ehemaligen Sporthalle auf und konfrontiert die Positive mit ihrem, den Boden bedeckenden Negativ. Der Betrachter findet sich in der Mitte wieder. An ihm ist es, die verlorengegangenen Grauwerte in der Auseinandersetzung mit den gezeigten Motiven und den von Kilpper gezogenen Verbindungen wiederzufinden.

Don't look back von Natalie de Ligt (2002)
„Don’t look back“ ist der Titel eines Kunstwerks, das Thomas Kilpper 1998 in der Basketballhalle des ehemaligen US-Militärgeländes Camp King in Oberursel geschaffen hat. In der leerstehenden und zum Abriss bestimmten Halle verwandelte der Künstler über mehrere Monate den gesamten, ca 250 qm großen Parkettboden in einen Druckstock. Mit Kettensäge, Oberfräse und Beitel schnitzte er Bilder und Szenen der wechselvollen Geschichte dieses Ortes in den Boden.

1937-41 „Reichssiedlungshof“, NS-Lehr- und Musteranlage zur Heranbildung bäuerlicher Siedler.
1941-45 „Dulag Luft“, Durchgangslager der Luftwaffe für Kriegsgefangene. Sammelpunkt aller gefangengenommenen alliierten Flieger zu Verhören vor der Verbringung in die sogenannten Stammlager.
1945-93 „Camp King“, Übernahme durch die US-Armee und Geheimdienstabteilungen des CIC und CIA. Vernehmungszentrum zwecks Vorbereitung der NS-Kriegsverbrecherprozesse. Unter Leitung von Reinhard Gehlen: Aufbau des BND (Bundesnachrichtendienst) aus der Wehrmachtsabteilung „Fremde Heere Ost“. Vernehmungszentrum für Ostflüchtlinge durch den US-Geheimdienst während der Zeit des Kalten Krieges.
1993-98 Aufgabe der militärischen Nutzung des Camp King. Verkaufsverhandlungen zwischen Bund und Stadt Oberursel, Planungen der Stadt für eine neue Wohnbebauung.
1999 Baubeginn für die Umwidmung in ein ziviles Wohn- und Arbeitsgebiet

„Leere Gebäude gleichen unzugänglichen, verschütteten Stätten oder verdrängten Teilen unserer Erinnerung. In ihnen hat sich einst Leben abgespielt, das schnell in Vergessenheit gerät und nicht mehr wahrgenommen wird. Ich versuche, möglichst viel davon wieder auszugraben und ins Bewusstsein zu bringen.“ (Thomas Kilpper) Metaphorisch gesprochen, gab er dem Boden zurück, was auf ihm stattgefunden hat. Das physische Eingreifen, das durchaus einer Attacke gegen den Boden gleicht, lässt auf der anderen Seite neue Bilder entstehen, eine Erzählung.
An einigen Stellen hat der Künstler Bilder seiner eigenen Geschichte mit eingeflochten, und so stellt das Werk die Frage nach dem Zusammenhang von persönlicher Biographie und kollektiver Geschichte. Die in großen Lettern hineingearbeitete, das gesamte Bild durchziehende Frage: „Wo bitte schön kann ich meine Grauwerte wiederfinden?“ geht an den Betrachter zurück, als Frage nach gesellschaftlicher Kompetenz und Verantwortung und sicherlich auch als Forderung, das Denken in Zwischentönen zu wahren.
Der monumentale Holzschnitt, der wegen seiner Ausmaße ins Guinness-Buch der Rekorde 2000 aufgenommen wurde, zeigt in eindrucksvoller Weise Aspekte der Historie dieses Ortes auf, die zugleich Synonym der Geschichte Deutschlands sind. Das Kunstwerk ist schier nicht mehr aus Oberursel wegzudenken. So haben sich bereits sehr frühzeitig die SEWO, die Stadt Oberursel, der Kultur- und Sportförderverein Oberursel sowie einige Bürger der Stadt für dessen Erhaltung eingesetzt, um es auch weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Hierfür wurde der Holzschnitt in 120 Einzelteile von 145 x 155 cm zerlegt, um davon Negativformen aus Silikon zu gießen, die dann mit Feinbeton gefüllt wurden. Die entstandenen Platten sind im August 2002 unweit der ehemaligen Basketballhalle, vor dem Kinderhaus im Jean-Sauer-Weg, wieder zusammengeführt worden. Sie geben zum einen den ursprünglichen – spiegelverkehrten – Druckstock detailgenau wieder, zum anderen bilden sie in Anlehnung an die ursprüngliche Nutzung ein bespielbares „Streetballfield“. In dem Sinn kann das Kunstwerk auch benutzt werden – wegen all der Einkerbungen und Unebenheiten mit Vorsicht.
Am 15. September 2002 wurde das Werk der Öffentlichkeit übergeben. Es ist zu wünschen, dass es auch in Zukunft der Katalysator für eine lebendige und rege Auseinandersetzung bleibt

Thomas Kilppers gigantischer Holzschnitt ist in Beton wiedererstanden. F.A.Z., 15.09.2002 h.r. OBERURSEL.
h.r. OBERURSEL. In Oberursel ist es Kindern und Jugendlichen von morgen an offiziell erlaubt, die Kunst mit Füßen zu treten. Daran wird weder die Stadt Anstoß nehmen noch der Schöpfer des Kunstwerkes. Im Gegenteil, es wäre sogar im Sinne der Historie der mit 330 Quadratmetern Fläche monumentalen Arbeit des Frankfurter Künstlers Thomas Kilpper, darauf hin und wieder Sport zu treiben. Denn „Don’t look back“, wie Kilpper seinen 1999 geschaffenen Holzschnitt nannte, entstand ursprünglich in der Basketballhalle von Camp King. Kilppers ungewöhnliches Arbeitsmaterial war das Parkett der Turnhalle.

Mit Kettensäge, Oberfräse und Beitel schnitzte der Künstler in das Eichenholz. Es entstanden Bilder der wechselvollen Geschichte des Geländes, das von 1937 bis 1941 nationalsozialistischer Reichssiedlungshof war, anschließend für vier Jahre als Durchgangslager der deutschen Luftwaffe für Kriegsgefangene diente, bevor die amerikanischen Streitkräfte es nutzten. 1993 gaben sie den Standort Camp King auf, und die Stadt kaufte das Gelände vom Bund. Seit drei Jahren läßt sie dort neue Wohnungen bauen und die alten Fachwerkhäuser des Reichssiedlungshofs sanieren.

Kilpper sorgte mit dem ungewöhnlichen Holzschnitt weithin für Aufsehen. Wegen seiner Ausmaße wurde „Don’t look back“ vor zwei Jahren sogar in das Guinness-Buch der Rekorde aufgenommen. Frühzeitig machten sich daher die Stadt, die Stadtentwicklungsgesellschaft (EWO), der Kultur- und Sportförderverein und einige Oberurseler Bürger Gedanken, wie das Werk der Öffentlichkeit auf Dauer zugänglich gemacht werden könnte. So entstand die Idee, eine Reproduktion anfertigen zu lassen. Am Sonntag nun wird dieser Nachguß der Öffentlichkeit übergeben.

Statt in Eiche ist die Geschichte des Camps nun in Beton verewigt, und statt in der Basketballhalle – die längst abgerissen wurde – liegt das Kunstwerk nun vor einem jener Fachwerkhäuser aus der Ära des Reichssiedlungshofs, in dem seit Januar das Kinderhaus von Camp untergebracht ist. Die neue Adresse heißt Jean-Sauer-Weg 2, und es firmiert dort als „Streetballfield“.

Daß die außergewöhnliche Kunstaktion nicht nur als Erinnerung im Stadtarchiv überlebte, ist zahlreichen Sponsoren zu verdanken und einem aufwendigen Verfahren. Kilppers Holzschnitt war vor dem Abriß der Basketballhalle in Einzelteile zerlegt worden. Davon wurden Negativformen aus Silikon gegossen und diese dann mit Feinbeton gefüllt. Die entstandenen Platten geben den Holzschnitt detailgenau wieder. Kilpper will noch einen Basketballkorb aufstellen lassen, um an den alten Raumeindruck zu erinnern. Insgesamt hat die Rekonstruktion 175.000 Euro gekostet, die Sponsoren aufbrachten, darunter viele Firmen, aber auch die Hessische Kulturstiftung und der Verein der Freunde der Städelschule.

Die Eröffnungsfeier am Sonntag beginnt um 14 Uhr und dient gleichzeitig dem Rückblick auf 25 Jahre offene Kinder- und Jugendarbeit in der Stadt. Der ehemalige Leiter des Frankfurter Museums für Moderne Kunst, Jean-Chris Ammann, wird einige Erläuterungen zu dem Kunstwerk geben.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14.09.2002

Backstube | 1997 – 2004

gemeinhin produzieren künstler bilder. mit der installation backstube ist die möglichkeit zur herstellung von sprengsätzen geschaffen. in einer aus gebrauchten holzplatten zusammengebauten hütte gibt es alle bestandteile die notwendig sind, um sich als bombenleger zu betätigen. feuerlöscher und gasflaschen als metallbehälter, diverse chemikalien zur herstellung des sprengstoffs, werkzeug, elektronikteile, zu zeitzündern umgebaute wecker, bücher zum politischen hintergrund. eine schreibmaschine ist offensichtlich für das verfassen von tatbekennungen vorgesehen.
wird hier der künstler etwa zum bombenbastler und potentiellen bombenleger? bomben statt bilder?
was geht hier vor sich? soll angegriffen werden – wer oder was – warum und wofür?
backstube entstand 1997. die arbeit wurde bis jetzt an drei verschiedenen orten gezeigt. in der kunsthalle schirn, frankfurt (frankfurter kreuz, 2001), in der „sommerpalast”-ausstellung von markus ambach in neuss (2002-03) und auf der kunstmesse art, 2004 in frankfurt. jedesmal stösst sie andere fragen an. jedesmal legt sie widersprüche offen. beispielsweise stehen die gebrechlichkeit der hütte und die ärmlichkeit ihrer einrichtung in kontrast zu dem offensichtlichen streben nach macht

Aufsicht – Städtezeichnungen

1996 – 97

duesseldorf.1996
berlin.300x180.1997
basel.1997.180x150
Stuttgart.1996
Nuernberg.1996
leipzig.1997
koeln.180x150.1997.TK_
frankfurt250x180.1997
frankfurt.roemer.1996
frankfurt.osthafen.1996
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duesseldorf.1996
duesseldorf.1996
berlin.300x180.1997
berlin.300x180.1997
basel.1997.180x150
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Stuttgart.1996
Stuttgart.1996
Nuernberg.1996
Nuernberg.1996
leipzig.1997
leipzig.1997
koeln.180x150.1997.TK_
koeln.180x150.1997.TK_
frankfurt250x180.1997
frankfurt250x180.1997
frankfurt.roemer.1996
frankfurt.roemer.1996
frankfurt.osthafen.1996
frankfurt.osthafen.1996
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