„Meine Arbeit ist eine Art Rekonstruktion des Boxrings von Blackfriars in der British Library. Ich stelle das sehr spezielle Publikum eines speziellen Boxkampfs dar. Ungefähr 80 Leute kommen zusammen, um dieses Spektakel mitzuerleben; einige sind bekannt, andere nicht – Charles Dickens, William Shakespeare, Johannes Gutenberg, Alfred Hitchcock, Denis Healey, Adolf Hitler, Len Harvey, Henry Cooper, Muhammad Ali, Marie Lloyd, Mata Hari, Richard Wagner, Georg Friedrich Händel, Karl Marx, Sigmund Freud, Madonna, Basquiat, Andy Warhol, Leo Castelli, Sigmar Polke, Gilbert & George … Aus meiner Sicht sind sie alle mit diesem spezifischen Ort, mit dem Stadtteil Southwark oder mit mir selbst verknüpft.“ Thomas Kilpper
Auf der 10. Etage des Orbit House, eines leer stehenden Bürogebäudes in der Blackfriars Road in Southwark, hat Thomas Kilpper einen 400 qm großen Holzschnitt geschaffen. Fünf Monate lang hat Kilpper direkt in das Mahagony-Parkett geschnitzt und die Geschichte des Ortes in den Boden gemeißelt, indem er eine Karte der gewaltigen soziokulturellen, politischen und ökonomischen Veränderungen entwickelte, die sich in Southwark im Laufe von mehr als 200 Jahren ereignet haben. Man kann dort verschiedene Veränderungen im Hinblick auf Gesellschaftsstruktur, Politik und Wirtschaft nachvollziehen, die von der kirchlichen Nutzung des Ortes im 18. und 19. Jahrhundert bis hin zu dem gegenwärtig zu beobachtenden Anbruch des Cyber-Kapitalismus reichen.
Es ist bezeichnend, dass Kilpper sich der Technik des Holzschnitts, des ältesten Druckverfahrens, bedient. Die sich ab dem 15. Jahrhundert in Europa verbreitenden Holzschnitte hatten die Funktion, Wissen zu vermitteln und historische Ereignisse buchstäblich festzuschreiben. Eine der wesentlichen Veränderungen unserer Weltsicht, die die Erfindung des Druckstocks mit sich brachte, lag in der Vorstellung, die Natur warte gewissermaßen nur passiv darauf, dass der Mensch sie sich aneignet.
Kilppers Geschichte beginnt im Jahre 1780, als der charismatische Reverend Rowland Hill, dessen Predigten über 1000 Gläubige anzogen, an diesem Standort die oktagonale Surrey Chapel errichten ließ. Die Kapelle wurde 1890 aufgegeben, und das Gebäude wurde zunächst von dem Ingenieurbüro Green & Sons Ltd. übernommen, bevor es 1905 in ein Möbellager umgewandelt wurde. Zwischen 1907 und 1909 wurde es zu einem der ersten Londoner Kinos umgebaut und erhielt somit wieder seine ursprüngliche Funktion als Schauplatz des Ruhms, der Rituale und der Flucht. Diese Phase der Filmgeschichte ist gut geeignet, um die für Kilppers Schaffen so relevanten Beziehungen zwischen spektakulären Ereignissen und historischem Niedergang zu untersuchen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bekamen die Schauspieler nur selten Anerkennung für Filmrollen. Viele Schauspieler waren hauptsächlich am Theater tätig, wo der Film als zweitrangig betrachtet wurde. Deshalb wollten sie oft gar nicht erkannt werden, wenn sie in Filmen mitspielten.
Nachdem man beschlossen hatte, das Gebäude weiterhin als Veranstaltungsort zu nutzen, wurde dort jene beliebte Boxarena eingerichtet, die man den Ring (The Ring) nannte. Zwischen 1910 und 1940 traten hier einige der berühmtesten Londoner Boxer auf. Zu dieser Zeit boten Sportarten wie das Boxen eine gute Gelegenheit, bestimmte männliche Werte in der westlichen Gesellschaft zu festigen. Schon vorher hatte es etliche Versuche gegeben, Kampfsportarten mit moralischer Stärke in Verbindung zu bringen – so zum Beispiel bei der Entwicklung jenes energischen Christentums, wie es von führenden viktorianischen Pädagogen propagiert wurde. Diese Tendenzen traten besonders deutlich in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen zutage, als der Boxring zu einer Plattform wurde, auf der physische Präsenz, das stoisch-tapfere Ertragen von Schmerz und die Fähigkeit, unter Druck Entscheidungen zu treffen, demonstriert werden konnten – eindeutig militärische Werte, die als grundlegende männliche Tugenden ausgegeben wurden.
Kilpper verbindet die ideologische Bedeutung des Boxens mit eher subjektiven Assoziationen an diese Sportart, indem er Personen wie Muhammad Ali und Henry Cooper porträtiert. Auf diese Weise wird zugleich das den Ring prägende Leitmotiv der Beziehungen zwischen Ruhm und Niedergang fortgeführt. Der Erfolg von Boxern ist besonders unbeständig und vergänglich. An Ali und Cooper können wir uns erinnern, aber die meisten Boxer geraten ebenso schnell in Vergessenheit wie Windhunde und Rennpferde. Im Ring zieht Kilpper Parallelen zur Kunstwelt, indem er ein Porträt von Leo Castelli einbezieht und neben Tony Shafrazis und Bruno Bischofbergers bekanntes Plakat von 1985 platziert, auf dem Warhol und Basquiat als Boxer dargestellt werden. Ähnlich wie bei einem erfolgreichen Box-Manager hielt Castellis Erfolg länger an als die Karriere seiner Kunden. Und über erfolglose abstrakte Expressionisten sagte er einmal: „Sie werfen mir vor, dass ich sie vernichtet hätte; sie geben mir die Schuld an ihrem Begräbnis. Aber sie waren schon vorher tot. Ich habe nur geholfen, ihre Leichen beiseite zu schaffen.“
In der Zeit des Rings wurde das Gebäude zugleich als Theater und Konzertsaal genutzt, wo man Stücke von Wagner und Händel hören konnte. Die Old Vic Company brachte im Ring – mit Robert Atkins und Leslie French – Shakespeares Heinrich IV zur Aufführung. (Der ursprüngliche Ring, Shakespeares legendäres Globe Theatre, war noch nicht wiederaufgebaut worden.) Alfred Hitchcock drehte 1926 im Ring seinen gleichnamigen Stummfilm, in dem sich ein Boxer in die Kartenverkäuferin verliebt. Auch Hitler hinterließ seine Spuren. Die NS-Luftwaffe bombardierte den Ring zweimal und führte so das Ende jener Ära herbei, in der in der Blackfriars Road Boxkämpfe und Theateraufführungen stattfanden.
Das heutige Bürogebäude, Orbit House, wurde in den sechziger Jahren für das Verteidigungsministerium errichtet, und im Auftrag des damaligen Ministers Denis Healey wurde hier eine geheime Druckerei der Armee untergebracht. Kilpper veranschaulicht diese Phase durch die Wiedergabe der ältesten abendländischen Darstellung einer Druckerei: eine Szene mit einem Totentanz (Lyon, um 1500). Das makabre Bild wirft die Frage auf, inwieweit Druckerzeugnisse im Laufe der Geschichte auch Kontrollinstrumente waren. Das Informationsmonopol der Kirche in der Epoche der Buchmalerei endete mit der Erfindung des Buchdrucks. Die europäischen Nationalstaaten erlebten eine Blütezeit, da es fortan möglich war, die Welt unbeeinflusst von religiöser Propaganda darzustellen. Die Welt war kein Geheimnis mehr, sondern eine überschaubare, kontrollierbare Sphäre, die es auszubeuten galt. (Das bezeugt zum Beispiel eine Nachbildung von Francis Drakes Galeone Golden Hinde aus dem 16. Jahrhundert, die in unmittelbarer Nähe des Orbit House vor Anker liegt.) Im Zuge der Entwicklung einer eurozentrischen Weltwirtschaft benötigte man Armeen und eine nationalistische Propaganda, um in den Kolonien neue Märkte zu erschließen und zu schützen. So gesehen brachte die Erfindung des Druckens sowohl Befreiung als auch Unfreiheit und Ausbeutung mit sich.
Kilpper macht darauf aufmerksam, dass die Fenster der geheimen Druckerei des Verteidigungsministeriums mit Zeitungen abgedeckt waren. Dieser Einsatz von Druckerzeugnissen als Unterdrückungsinstrument in der Phase, als das Gebäude vom Verteidigungsministerium genutzt wurde, wird im Ring durch die Reproduktion eines Zeitungsfotos zum Falkland-Krieg und durch ein Porträt von Bobby Sands veranschaulicht, das auf die Unruhen in Nordirland verweist.
Über 25 Jahre war im Orbit House hauptsächlich die Orientabteilung der British Library untergebracht. Die Herstellung von Büchern und folglich auch die Existenz von Bibliotheken sind natürlich untrennbar mit der Erfindung des Holzschnitts verknüpft. Im Jahre 1452 erfand Johannes Gutenberg bewegliche Lettern und nutzte die vorhandenen Erfahrungen mit Papier, ölhaltiger Tinte und Weinpressen, um die ersten Bücher zu drucken. Im belgischen Brügge produzierten William Caxton und Colard Mansion 1475 das erste gedruckte Buch in englischer Sprache, The Recuyell of the Historyes of Troye, und leiteten auf diese Weise eine Vereinheitlichung der Sprache ein. Die Druckerpresse ist jedoch keine rein westliche Erfindung, sondern das Ergebnis von Forschungen, bei denen verschiedene Technologien, die schon seit Jahrhunderten bekannt waren, an einem Ort zusammengeführt wurden. In der Orientabteilung der British Library befindet sich der Diamond Sutra (868 n. Chr.), der älteste datierte Holzschnitt der Welt, eine wichtige Quelle für die technischen Erkenntnisse der europäischen Drucker. Kilpper bringt den Diamond Sutra sowohl mit seiner eigenen Familiengeschichte als auch mit dem europäischen Kolonialismus in Verbindung.
Kilppers Vater wurde in China geboren, wo sein Großvater als Missionar tätig war. Kilpper erinnert an den Boxeraufstand, einen Protest gegen die Übergriffe der Europäer auf chinesischem Territorium und gegen die Aktivitäten christlicher Missionare. Die Boxer schlossen sich um 1899 zu einem Geheimbund zusammen, der sich „Die Faust der harmonischen Rechtschaffenheit“ nannte. Die Bewegung, deren Zentrum in Peking lag, erreichte im Juni 1900 ihren Höhepunkt. Einige christliche Missionare und zahlreiche chinesische Christen wurden ermordet. Kilppers Großvater wurde gekidnappt. Die ausländische Bevölkerung und viele einheimische Christen nahmen Zuflucht in der britischen Vertretung, wo sie den Boxern entschiedenen Widerstand leisteten.
Am 21. Juni erklärte China den westlichen Verbündeten den Krieg. Während der Gefechte wurde der Pekinger Sommerpalast zerstört. Die ausländischen Truppen blieben in Peking, bis im September 1901 ein Friedensabkommen unterzeichnet wurde, das für China eine große Demütigung darstellte. Kilppers Mao Tse Tung verkündet: „Wir brachten einige eurer Missionare in die Berge, ihr brachtet unseren Diamond Sutra nach Europa – wir gaben sie zurück, ihr nicht…“
Das Orbit House steht seit einiger Zeit leer und soll demnächst abgerissen werden. Die Eigentümer haben die Absicht, ein neues und größeres Bürogebäude namens Southpoint zu errichten. Das Projekt kostet 90 Millionen Pfund und ist in diesem Teil Londons die größte private Investition seit 15 Jahren. In den papierlosen Büros werden mechanische Reproduktionsverfahren wie das Drucken obsolet sein. Das gedruckte Wort und das gedruckte Bild werden nun für die soziale Interaktion in Echtzeit und die individuelle Beschäftigung mit interaktiven Dokumenten genutzt. Der Informationsfluss verläuft digital, er vollzieht sich ohne jede Beschränkungen und Verzögerungen, ist aber sehr ungreifbar. Damit geht einher, dass die Ära des Nationalstaats vom Zeitalter des Cyper-Kapitalismus abgelöst wird.
Die Macht der umfassenden wirtschaftlichen Globalisierung hat dazu geführt, dass ganz Southwark sich verändert. In unmittelbarer Nachbarschaft des Orbit House wurde das von Giles Gilbert Scott entworfene Kraftwerk Bankside von den Schweizer Architekten Herzog und de Meuron zu einem Museum umgebaut und von einem Gebäude, das für eine Industrienation konzipiert wurde, in ein Gebäude umgewandelt, das der Kommunikation der globalen Informationsgesellschaft dient. Die erste Phase des Umbaus zur Tate Modern kostet 134 Millionen Pfund. Der Londoner Bezirk Southwark gehörte zu den ersten wichtigen Investoren, da man das enorme Potenzial des Projekts zur Modernisierung des Stadtteils und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze erkannte. Wie alle Dienstleistungsunternehmen wird auch die Tate Modern Arbeitsplätze schaffen, aber mit dem Umfeld, in dem sie sich befindet, nichts gemeinsam haben. Wenn sie nicht ignoriert oder ausgelöscht wird, wird die Geschichte des alten Markts und des Hafens von Southwark sorgfältig aufpoliert (das Globe Theatre, das Clink-Gefängnis, die Golden Hinde), um das Gebiet für umfangreiche internationale Investitionen attraktiv zu machen. Seit dem Ausbau der U-Bahnlinie Jubilee Line und kurz vor der Eröffnung von Norman Fosters neuer Brücke zwischen Bankside und City ist absehbar, dass bald die wohlhabende Mittelschicht in die aus der Zeit von Charles Dickens stammenden Gassen zieht. Die vielfältige Geschichte und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten dieses Stadtteils werden erneut einem Wandel unterworfen, der sich jedoch, wie der Ring deutlich macht, nicht ohne Kämpfe vollzieht.
Neil Mulholland ist Kunsthistoriker und unterrichtet zeitgenössische Kunstgeschichte an der Kunsthochschule in Edinburgh, Schottland
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Honrath.